Gesellschaft 10. Juni 2024, von Carmen Schirm-Gasser/kirchenbote.ch

«Ich möchte den Menschen hier etwas zurückgeben»

Ukraine

Olena Pantsuik flüchtete aus der Ukraine in die Schweiz. Dort war sie erfolgreiche TV-Journalistin, hier eine Fremde, die vor dem Nichts stand. Pantsuik wollte nicht aufgeben.

Vor zwei Jahren kam Olena Pantsuik, in die Schweiz. Alles war sehr schnell gegangen. Am 24. Februar 2022, einem Tag vor ihrem Geburtstag, war Krieg in ihrem Heimatland ausgebrochen. Auf einmal hörte sie Bomben ganz in ihrer Nähe einschlagen. Fünfmal am Tag musste sie in den Luftschutzkeller. 

Als sie von Kiew weg in eine andere Gegend floh, schlugen auch dort Bomben ein. Sie war mit ihren Nerven am Ende. «Mein Impuls war nur noch Flucht», erinnert sie sich. Zusammen mit ihrer jüngeren Tochter konnte sie in einem Bus nach Polen fliehen. Dort war Olena eine von tausend anderen ukrainischen Flüchtlingen, die sich alle fragten: Wohin?

«Ich wollte nicht weit gehen, weil ich Angst hatte, meine Heimat wieder zu verlieren, wie damals, als wir aus Pripjat evakuiert wurden, nach der Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl. Uns wurde gesagt, dass wir für drei Tage evakuiert würden, wir konnten dann aber nie mehr nach Hause zurückkehren.» 

Es hat mich sehr berührt, zu hören, dass die Schweizer damals auch den Kindern von Tschernobyl geholfen haben. Das bedeutet dann auch, dass die Schweizer nicht kalt und verschlossen sind.
Olena Pantsuik, Journalistin

Ein amerikanischer Freiwilliger schlug ihr vor, in die Schweiz zu gehen. Er kenne dort eine Familie, die zu Zeiten des Unglücks in Tschernobyl ukrainische Kinder aufgenommen hatte. «Es hat mich sehr berührt, zu hören, dass die Schweizer damals auch den Kindern von Tschernobyl geholfen haben, und das bedeutete dann auch, dass sie nicht kalt und verschlossen sein könnten.»

Wunsch nach Unabhängigkeit

Vier Wochen später kam sie in Schaffhausen an. Und wurde mit offenen Armen empfangen. Doch der Anfang war schwer. Ihr Leben lang hatte sie gedacht, dass sie in der Ukraine alt werden würde. Nun war sie in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht verstand, ohne Perspektive auf einen Arbeitsplatz. 

Dabei hatte sie ihr Leben lang gearbeitet, weil sie finanziell unabhängig sein wollte. Olena war jahrzehntelang TV-Journalistin gewesen, hatte erfolgreiche TV-Formate ins Leben gerufen. Anfänglich ging sie davon aus, dass sie in der Schweiz bald arbeiten könnte. Sie schrieb Dutzende Bewerbungen, bekam jedoch keine Antwort. Liegt es an der Sprache?, fragte sie sich. Ihr Englisch würde wohl nicht reichen. Also büffelte sie Deutsch, mehrere Stunden am Tag. Mittlerweile spricht sie ein annehmbares Deutsch.

Die Schweiz ist meine zweite Heimat, ich fühle eine Verbindung zu diesem Land und den Menschen.
Olena Pantsuik, Journalistin

Für die Arbeit einer Journalistin reicht ihr Deutsch wohl zeitlebens nicht aus, musste sie sich irgendwann eingestehen. Ein herber Schlag für sie. Doch Nichtstun war keine Perspektive für sie. Also begann sie mit dem, was sie am besten konnte: sich zu vernetzen, auszutauschen, Wege zu suchen, um sich und anderen Flüchtlingen zu helfen. 

Im November letzten Jahres organisierte sie einen Talentwettbewerb. Dabei konnten ukrainische Flüchtlinge ihre Fähigkeiten zeigen, Haare schneiden, selbst gebastelten Schmuck anbieten, Backwaren und Essen verkaufen. Anschliessend organisierte sie die Veranstaltung «Ukrainische Weihnachten in Schaffhausen», die im Gästesaal einer der reformierten Kirchen in Schaffhausen stattfand.

Zwei Heimaten

Heute sind Schweizerinnen und Schweizer für Olena nicht mehr unnahbar, im Gegenteil. «Die Schweiz ist meine zweite Heimat», sagt sie. «Ich fühle eine Verbindung zu diesem Land und den Menschen.» Sie hat mittlerweile viele Freundinnen, auch solche, die in grösseren Städten wohnen und sie auffordern, doch auch in eine grössere Stadt zu ziehen. 

Der Flüchtlingssonntag am 16. Juni

In der Schweiz finden Menschen Schutz, die vor Gewalt und Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen mussten. Der nationale Flüchtlingssonntag ist ein Tag der Besinnung, der mit Aktionen auf die Anliegen und Rechte von Flüchtlingen aufmerksam macht. Er findet jeweils am dritten Wochenende im Juni statt.

Doch Olena will in Schaffhausen bleiben. «Ich möchte den Menschen, die so viel für mich getan haben, hier etwas zurückgeben. Dafür werde ich ein Leben lang dankbar sein.» Zwei Jahre lang weinte sie darüber, dass sie nicht mehr in der Ukraine lebt. Wenn sie jetzt in die Ukraine zurückkehren würde, würde sie um die Schweiz weinen, sagt sie. «Ich kann mittlerweile sagen, ich liebe die Schweiz.»

Und sie hat noch viel vor. In einem künftigen Projekt befasst sie sich mit der sozialen Integration ukrainischer Flüchtlinge durch ehrenamtliche Hilfe für ältere Schweizer. Damit sollen Flüchtlinge in wichtige gesellschaftliche Prozesse einbezogen werden. Ausserdem züchtet sie in einem kleinen Garten in der Nähe ihres Hauses in Schaffhausen, wo sie derzeit lebt, wunderschöne, hohe ukrainische Sonnenblumen. Die Arbeit geht also nie aus.