Im Wohnzimmer von Martin Burri hängt ein ockerfarbenes rechteckiges Bild. Eng aneinandergereihte und weit nach oben und unten ausschlagende schwarze Linien dominieren die rechte Bildseite – wie die Aufzeichnungen der Herzfrequenz von 150 auf dem EKG-Monitor.
Ständig auf Trab. «Das ist sinnbildlich für mein vorheriges Leben», erklärt Martin Burri. Damit meint der 63-Jährige sein Leben vor dem Hirnschlag 2007: Von Dienstagmorgen bis Samstag um 1 Uhr stand er in seinem Coiffeurgeschäft, arbeitete täglich elf bis zwölf Stunden. Am Samstag nach Ladenschluss flog der Berner dann oft ins nahe Ausland, wo er sein Wissen über ein neues, bewusstes Haareschneiden weitergab. Dieses hatte er sich während zwanzig Jahren angeeignet, nachdem er als Dreissigjähriger genug von der Welt des Coiffeurs hatte, die sich nur um äussere Schönheit dreht.
Er nahm eine Auszeit, überlegte, den Beruf zu wechseln. Die Leidenschaft für Haare liess ihn nicht los. Die Natur wurde sein Lehrmeister. Er erforschte alternative Seiten der Haarbehandlung und entwickelte einen bewussten Umgang mit Haaren (siehe Box unten).
Martin Burri wurde klar, dass zwischen Haar, Körper und Geist Zusammenhänge bestehen und er mit seiner Methode die Energieebene von Menschen beeinflussen kann. Dazu nutzt er seine feindifferenzierte Wahrnehmung, die ihm bis dahin oft im Weg war. «Was ich spüre, ist rational nicht erklärbar. Oft habe ich mich gefragt, ob ich spinne», erzählt er am Küchentisch in seiner Wohnung in Thörishaus. Aber die Reaktionen der Kundinnen und Kunden waren positiv, Termine auf ein Jahr ausgebucht.
Durch die Wand. Dann erlitt der Friseur 2007 einen Hirnschlag. Eine Art Ast stellt dieses Ereignis in der Mitte des Bildes im Wohnzimmer dar. Er unterbricht die wilden Linien von rechts abrupt. «Das ist der Schatten der Sonde, den ich während der Behandlung auf dem Monitor gesehen habe», erklärt Martin Burri sein Bild. Nach Höhen und Tiefen der Rehabilitation realisierte er: Seine Berufung ist nicht das Haareschneiden, sondern, sein Wissen weiterzugeben. Sein linker Arm ist seit dem Hirnschlag gelähmt. «Aber ich kann sprechen und gehen, die Erinnerungen sind mir geblieben, und ich hatte den Mut, mein Leben neu zu gestalten.» Die Ärzte zweifelten an seinem Vorhaben, doch er bewies ihnen das Gegenteil. «Ich habe halt so einen Gring», schmunzelt Burri, «und mit dem gehe ich durch die Wand.»
Alles wie von selbst. Links vom Ast wird das Bild ruhiger: Erst folgt eine Leere, die dann aber gegen den linken Bildrand wieder mit Linien belebt wird. Hier zeigt sich die Zeit nach dem Hirnschlag. «Ich möchte nicht zurück in mein vorheriges Leben», sagt Martin Burri. Zwar war diese Phase gut für sein Ego, aber Platz für Spontaneität gab es keine. «Trotz weniger Möglichkeiten habe ich heute mehr Lebensqualität», sagt der Sohn eines Coiffeurs, der sein Wissen nun in Haarsprechstunden, Seminaren und Vorträgen im In- und Ausland vermittelt. «Man muss nicht zaubern können, nur die Zusammenhänge sehen und spüren. Dann geht alles von selbst.» Seine Augen funkeln.