«Die Umgebung seiner Kunst ist nie Zufall»

Forschung

Früher als Vandale verurteilt, heute ein gefragter Künstler: Kunsthistoriker Rémi Jaccard sagt, wieso Harald Naegeli diesen Sprung schaffte.

In Ihrer Dissertation haben Sie sich mit Graffiti-Kunst befasst. Was macht die Strichfiguren von Harald Naegeli so bedeutend?

Rémi Jaccard: Naegelis Bekanntheit hat mit dem frühen Zeitpunkt seines Erscheinens zu tun. In Zürich war er der erste Künstler, der im öffentlichen Raum Spuren hinterlassen hat. Damals gab es dafür noch kein öffentliches Bewusstsein. Die Kunstszene zeigte zwar schon früh Interesse an ihm. Zürichs Bewohner waren aber gar nicht angetan. 

Warum?

Es war einfach unerhört, dass sich einer rausnimmt, Fassadenwände und Brücken anzusprayen. Harald Naegeli wurde ja wegen Sachbeschädigung verurteilt. Spannender finde ich aber den moralischen Aspekt: Man warf ihm vor, zur Verängstigung beizutragen. Die Gewissheit vom eigenen Heim werde den Menschen genommen, wenn da einer heimlich in der Nacht unterwegs sei. Sein Treiben galt als Angriff auf Besitz und Privatsphäre.

Was unterscheidet Harald Naegeli von anderen Sprayern?

Seine Bildsprache ist sehr eigenständig. Das hängt unter anderem mit dem Medium der Spraydose zusammen. Im Vergleich zum Pinsel kommt es zu keinem direkten Kontakt mit dem Untergrund. Dank der Sprühtechnik haben die Strichfiguren diesen typischen ausladenden Schwung. Zudem sind die Gestalten von menschlicher Körpergrösse und korrespondieren in ihren Proportionen mit uns.

Harald Naegeli hat den Sprung vom Vandalen mit Spraydose zum gefragten Künstler geschafft. Wie hat sich die Rezeption seines Werks über die Jahre hinweg verändert?

Gerade dass er in seinen Anfängen kriminalisiert wurde, machte Harald Naegeli bekannt und löste eine Sympathiewelle bis nach Deutschland aus. Dies unterschied ihn von den jugendlichen Kunstsprayern, die keine Lobby hatten. Mit seinem zunehmenden Ruhm wollte man plötzlich schützen, was von seiner Kunst noch erhalten war. Insofern kam es zu einer Kehrtwende.

Mit dem Totentanz im Grossmünsterturm geht für Naegeli ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Inwiefern glauben Sie, ist dieser Ort für den Künstler speziell?

Bestimmt fasziniert ihn das architektonisch und historisch sehr spannende Gebäude. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass ihn der Turm als ein Wahrzeichen der Stadt Zürich reizt, weniger als Glaubensort. Naegeli wählt seine Umgebung stets sehr sorgfältig aus. Sein Totentanz kommt nicht zufällig an diesen Ort.

Rémi Jaccard, 38

 

Der Co-Leiter des Literaturmuseums Strauhof in Zürich schloss 2012 seine Dissertation über nicht autorisierte Kunst im öffentlichen Raum ab. Jaccard studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Geschichte in Zürich und Paris. Er ist Mitbegründer und Co-Leiter des Musée Visionnaire.