Die Farbe riecht noch frisch. Es kann nicht lange her sein, dass Harald Naegeli den Fisch und die üppige Pflanze in Silber gesprayt hat. Sie gesellen sich zum Skelett und zur Urfrau in Schwarz, die schon Ende November im Karlsturm des Grossmünsters entstanden sind.
«Er muss am Wochenende hier gewesen sein», sagt Thomas Gamma. Der Kurator des Kunstprojekts bemerkt, dass das tanzende Skelett neu eine Schwimmhaut zwischen die Finger bekommen hat. Dass der «Sprayer von Zürich» an schon bestehenden Figuren weiterarbeitet, zeigt die künstlerische Ernsthaftigkeit, mit welcher der 79-Jährige im Grossmünster ans Werk geht.
Die Grenze überschritten
«In den ersten drei Wochen war Naegeli sehr oft hier, einfach nur um sich mit dem Raum auseinanderzusetzen», erzählt Gamma. Beim ausladenden Sprayen hat der Künstler dann allerdings vertraglich vereinbarte Regeln missachtet. So hat er die Füsse der Figuren auf den Turmholzboden gestellt, statt sie auf der mit einem Schutzanstrich versehenen Sprayfläche auf der Mauer schweben zu lassen. Im öffentlich nicht zugänglichen Glockenturm, wo Harald Naegeli einen versteckten Schattentotentanz erschaffen will, streckt das Skelett seine Finger- und Fussspitzen ein paar Zentimeter über den versiegelten Mauerbereich hinaus. Das war nicht vorgesehen, denn das ganze Werk sollte nach vier Jahren problemlos wieder verschwinden.
Das Grossmünster gehört nicht der Kirchgemeinde, sondern dem Kanton und gilt als schützenswertes Denkmal. Naegeli hegte schon lange den Wunsch, in den Türmen zu sprayen. 2015 sagte die Kirchenpflege Ja zu seinem Totentanz und startete das Projekt. Seither begleitet Gamma als Mitglied in der Kunstkommission der Kirchgemeinde die komplexen Verhandlungen zwischen Baudirektion und Denkmalpflege sowie dem Künstler.
Inzwischen hat der Kanton auf die Vertragsverletzungen reagiert. Er will eine Aussprache. Ein Termin des Künstlers mit dem Baudirektor scheint zwingend. Dass ein Treffen nicht gleich zustande kam, liegt auch daran, dass Naegeli zwischen Zürich und Düsseldorf pendelt.
Mehr Raum für die Kunst
Der Totentanz begleitet den Künstler schon lange. Im Exil in Deutschland sprayte Naegeli ihn 1980 auf Betonpfeiler, Tiefgaragen und Fabrikgebäude in ganz Köln. Das Werk ist längst weggeputzt, aber fotografisch dokumentiert. Zwei eindringliche Kreuzigungsszenen gehören dazu. Und nach der vom Basler Chemiekonzern Sandoz verursachten Umweltkatastrophe sprayte Naegeli 1986 dem Rheinufer entlang seinen Totentanz der Fische.
Gamma hofft, dass die Arbeit am Totentanz im Grossmünster trotz der aufgetretenen Probleme weitergeht. Und dass Naegeli, der sich bald mehr Platz wünschte, vielleicht wie durch ein Wunder doch noch eine grössere Fläche in den Türmen bespielen darf.