Recherche 01. Juni 2021, von Christian Kaiser

Wie der Himmel auf die Erde kommt

Kunst und Religion

Vincent Fournier war Verteidiger beim FC Zürich, heute ist er Mystiker und Künstler. In Ittingen hat der Walliser eine Himmelsleiter gebaut, um den Himmel auf die Erde zu bringen.

Alles Gute kommt von oben. Hier glaubt man's. Das Himmelblau fliesst durch einen hindurch wie ein Strom, verbindet sich auf den Stufen mit dem Atem, bis man sich – im Himmel angelangt – selbst ganz blau fühlt. Feeling Blue bekommt hier im Weinberg der Kartause Ittingen eine neue Note. «Wenn der Blick an heitern Tagen, sich zur Himmelsbläue lenkt, ..., da gebt der Natur die Ehre», hatte Goethe zu seiner Farbenlehre geschrieben, und dabei wohl nicht nur die äussere, sondern auch die innere Natur gemeint.

Die Kirche in die Natur geholt

Zuoberst weht ein Lüftchen, bläst durch einen hindurch, es ist einem zum Jauchzen zumut oder dazu, jemanden zu umarmen, der Milan, der nebenan auf der Linde bei der Pfarrkirche Warth sass, wirft sich zu einem ins Blau, gemeinsam lässt man sich vom Aufwind forttragen.

«Vere DoMInVs est In LoCo Ist hoC» ­– wirklich der Herr ist an diesem Ort, hier ist er – steht auf der zweitletzten Stufe dieser Himmelstreppe, der 184. Der Vers ist ein Verweis auf die Inschrift an der Decke der Kirche der Kartause, sie steht einen Steinwurf entfernt unter einem. Aber der Herr ist eben nicht nur drüben im Tempel der Mönche, sondern auch hier und jetzt mitten im Rebberg.

Ein lebendiges Kunstwerk

«Dieses Werk ist das Bild und das sehr genaue Symbol meines geistigen Lebens und meiner Kunst», sagt Fournier. Er habe eine begehbare Installation schaffen wollen, eine Verbindung zwischen dem natürlichen Leben und dem spirituellen, in den Himmel führend, aber auf der Erde.

Längst sind Gräser und Blüten in die Stufen hineingewachsen, Insekten gesellen sich zu den Bildern von Heiligen und Symbolen auf den 185 himmelblauen Brettchen, die die Stufen verkleiden – ein lebendiges Kunststück, im Wandel der Jahreszeiten: «Die Arbeit geht so weit über die Vorstellungen hinaus, die ich von ihr hatte: Sie entspricht vor allem der sehr tiefen Sehnsucht im Menschen nach der Vereinigung mit dem Ewigen.»

Das Bild der Himmelsleiter entspricht der sehr tiefen Sehnsucht des Menschen nach dem Ewigen.
Vincent Fournier, Ex-Fussballer und spiritueller Künstler

Eisenfuss mit spiritueller Ader

Hinter der künstlerischen Intervention in der Natur steckt ein Konzept – das Kunstwerk trägt den Titel «Herr, neige den Himmel und komm herab» aus dem Psalm 144,5. Und von unten gesehen, sozusagen noch am Start, scheint sich der fromme Wunsch zu erfüllen. Zumindest der erste Teil: Der Himmel neigt sich einem als Streifen durch die Weinstöcke zu. Betreten erlaubt und erwünscht.

Geschaffen hat diese Ittinger Himmelsleiter einer, der früher die Farben Blauweiss trug: Vincent Fournier, 60, vor 30 Jahren Linksverteidiger beim FC Zürich. 152 Spiele hat er damals für den FCZ bestritten, 2 Tore geschossen, heute ist er mystischer Künstler oder künstlerisch tätiger Mystiker, beides fliesst bei ihm untrennbar ineinander.

Die Zellen der Kartäuser sind für die Meditation gemacht, das spürt man.
Vincent Fournier, Ex-Fussballer und spiritueller Künstler

Das Werk kommt aus der Stille

Im März und April 2020 bewohnte Fournier eine der Künstlerklausen der Kartause. «Die Zellen der Kartäuser sind für die Meditation gemacht, das spürt man.» Gerade legte ein Lockdown die Schweiz lahm, in Ittingen lief nichts, kein Hotelbetrieb, keine Seminare, kein Restaurant, die Museen zu. Fournier hatte viel Zeit und Ruhe und Schweigen: «Manchmal sprach ich eine Woche lang kein einziges Wort.» Und hier im Thurgau fühlte er sich so weit weg von seinem Walliser Zuhause wie sonst nur in Spanien oder Paris: ideale Voraussetzungen für den stillen Schaffer. Und so baute der ehemalige Eisenfuss ein luftig-leichtes Treppchen in den Himmel und liess dabei seine ganze Spiritualität und Überzeugung einfliessen.

Das Kirchenjahr begehen

Entstanden ist ein begehbares Kirchenjahr: Eine Stufe entspricht zwei Tagen. Sonntage sind mit einem vertikalen Strich gekennzeichnet, die Hochfeste tragen die liturgischen Farben; beginnend unten vor Pfingsten (Rot) über Weihnachten (Weiss), bis zuoberst die Auferstehung (Violett) folgt. Christliche Feste sind mit farbigen Glasperlen gekennzeichnet. Auf den bemalten Brettchen dazwischen begegnen einem heilige Frauen und Männer und ihre mittelalterlichen Glücksrezepte. Jenes von Augustinus ist gleich zwei Mal verzeichnet: «Aime et fais ce que tu veux», «Liebe und tue, was du willst». Wyborada, Gallus, die Heilige Ida von Toggenburg und andere tauchen vor dem Hellblau auf – Gläubige, die auf ihrer Suche lang vor einem gen Himmel strebten.

Der Herr ist überall, überall kann eine solche Himmelsleiter sein.
Thomas Bachofner, spiritueller Leiter der Kartause Ittingen

Ein Stück Thurgauer Himmel

Einen hebt Fournier besonders hervor: Guigo, den Kartäuser, der die vier Stufen des geistigen Lebens um 1150 präzis beschrieben hat: Lectio – Meditatio – Oratio – Contemplatio, also Lesung, Meditation, Gebet, Kontemplation, darin bestand die Leiter der Kartäuser zu Gott. Fournier selbst ist in der franziskanischen Spiritualität zuhause. Für die Kapuziner in Sion ist er einer der Ihren, er nimmt an den Gebeten teil und hat sein Atelier in der Klosteranlage.

Das alles wirkt im ersten Moment sehr katholisch, den Impuls zu diesem «Stück Himmel im Thurgau» gegeben hat aber Thomas Bachofner, reformierter Pfarrer und spiritueller Leiter der Kartause Ittingen. Für ihn ist die Himmelsleiter von Fournier «ein sichtbares Zeichen dafür, welche Kraft darin steckt, wenn tief empfundene Spiritualität und Kunst zusammenkommen».

Ein rege begangenes Projekt

Zum Abschluss des Projekts nach einem Jahr zeigte sich Thomas Bachofner überrascht und sehr zufrieden über die Resonanz: Tausende hätten die Himmelsleiter bestiegen, 2600 Flyer zum Werk seien mitgenommen worden. Die Auftraggeber für das Kunstprojekt waren die beiden Thurgauer Landeskirchen: Sie haben sich zum 150. Jubiläum 2020 dieses Werk von Fournier geschenkt. Anfang Mai wurde es abgebaut. Für Bachofner hat es vor allem eine Botschaft veranschaulicht, die bleibt: «Der Herr ist überall, überall kann eine solche Himmelsleiter sein.»

Vincent Fournier: Der Spiritualität auf der Spur

Vincent Fournier: Der Spiritualität auf der Spur

Der Künstler und Ex-Fussballprofi Vincent Fournier (60) lebt und arbeitet in Sion VS. 1982 und 1986 gewinnt er mit dem FC Sion den Schweizer Cup. 1988 schliesst er die Studien an der École cantonale d’art de Lausanne mit dem Diplom ab und wechselt für vier Jahre zum FC Zürich. Bis 1992 bestreitet er als Verteidiger 152 Spiele für den FCZ. In seiner Zürcher Zeit besucht er Galerien und Kunstwerke wie jene des Malers Antonio Calderara beeinflussen ihn.

Fournier wohnt mit seiner Familie im benachbarten St. Leonard, mit einem Bein lebt er aber im Kapuzinerkloster in Sion, wo er auch sein Atelier hat. Für die Kapuziner in Sion ist er einer der ihren, denn er steht jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe auf, um am Gebet der Mönche teilzunehmen. Das Kernthema seiner künstlerischen Arbeit bezeichnet Fournier mit «la trace», der Spur. «Die Spur beweist das Leben», sagt er. Er beschäftigt sich primär mit sichtbaren Symbolen von Religiosität, sucht in der irdischen Materie nach den Zeichen lebendiger Spiritualität. U.a. kreisten seine früheren Arbeiten rund um das Grabtuch von Turin oder das Radbild des Niklaus von Flüe.

Mit dem 10 Jahre jüngeren Ex-Nationalspieler und Fussballtrainer Sébastien Fournier, ebenfalls Unterwalliser, ist Vincent Fournier nicht verwandt. Auf die Frage antwortet er jedoch strahlend: «Wir sind doch alle Brüder und Schwestern – vor Gott.»