Meinung 15. Dezember 2022, von Dana Grigorcea

Kunst begeistert und verändert

Gastbeitrag

Advent An Weihnachten wird Gott Mensch und entfacht den Funken der Mitmenschlichkeit. Indem sie die Begeisterung weckt, kann auch die Kunst die Gesellschaft empathischer machen.

Als Jugendliche las ich ein im Nachwende-Rumänien weit verbreitetes Buch: «Das Tagebuch der Freude» von Nicolae Steinhardt. Es waren die Notizen des rumänischen Juristen und Schriftstellers aus dem kommunistischen Gefängnis, Erinnerungen an Gelebtes und Gelesenes, an die erlebte Kunst, die nun, neu sortiert im düsteren Kerker, heiter waren und hoffnungsfroh.

«Mangelnde Begeisterung ist das sichere Zeichen des Untergangs», hiess es an einer Stelle. Ich kalligrafierte den Satz auf ein Blatt, das ich über das Bett pinnte. Ich verstand ihn als Aufruf, mit Elan bei der Kunst zu bleiben, beim Ausloten der Möglichkeiten unseres Lebens, beim Aufruhr.

Kopf voran in die Katharsis

Ich las viel und feierte ebenso viel. Auf Feten tanzten wir zu Grunge-Musik und sangen lauthals mit Curt Cobain: «A denial, a denial, a denial». Der nihilistische Inhalt interessierte uns nicht so sehr wie die dramatische Pose, die Überinstrumentierung, die Grenzüberschreitung: Lust auf Freiheit, Kopf voran in die Katharsis. 

An meiner Schule gab es eine Hardrock-Band, sie nannte sich «Rising Shadows». Das waren vier oder fünf Jungen mit schwarz um-florten Augen und langen Haaren, die ihre Songs beherzt hinausschrien in die aufgereihte Schülerschaft. Bei dem einen Schulkonzert erklommen sie brüllend den Maschendrahtzaun zu unserem kleinen Gemüsegarten und rissen ihn herunter. Keiner im Publikum hatte sich geregt, bis der junge Schuldirektor anfing zu klatschen und zu jubeln. 

Tennis auf der Bühne

In den Jahren danach kam so viel Kunst auf: Theater, Kino, Oper, Literaturzirkel. Ich arbeitete als Simultanübersetzerin im Kunstkino, da war der Saal immer voll. Die Leute mochten alles, kamen begeistert und blieben es bis zum Schluss. Ich erinnere mich an eine Aufführung – war es «Die lus-tige Witwe»? –, bei der Tennis gespielt wurde auf der Bühne, während die Schauspieler aus verfänglichen Aussagen unterschiedlicher Politiker zitierten. Aus dem Publikum kamen immer wieder spontaner Applaus und Bravo-Rufe, sodass die beiden Sänger länger als eingeübt den Ball halten mussten.

Der Podcast mit Dana Grigorcea

Die Kunst schärft unseren Blick für das Gegenwärtige, die Politik, und sie würde unsere Gesellschaft zwangsläufig umkrempeln – dessen war man damals gewiss. Die Vorstellung, die Kunst habe die Macht, den Menschen zu rühren, ihn von seiner Egozentrizität zu erlösen, ist in den osteuropäischen Ländern häufiger anzutreffen als im Westen, dachte ich, als ich 2007 in die Schweiz kam. Schon die Körperhaltung des Publikums: nach hinten gelehnt, abwartend, abwägend. Im Theater wurden keine Blumen auf die Bühne geschmissen, keine Kunstschaffenden auf der Strasse umarmt, mir fehlten die Gefühlsausbrüche. 

Eine ethische Ästhetik

Ich sollte meine Meinung noch ändern. Von Anfang an wurde ich als Künstlerin integriert: Die Rezensionen zu meinem Romanerstling «Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare» stellten mich als Schweizer Autorin vor – drei Jahre bevor ich die Schweizer Staatsbürgerschaft erhielt. Kunst hält sich nicht mit bürokratischem Kleinkram auf, kennt keine Grenzen. 

Ich war bei der Gründung der Schweizer Partei «Kunst + Politik» dabei: Im Gründungsakt nahm sie sich vor, Diskurse aus der Kunst in die Diskurse der Regierungsparteien zu integrieren und somit die Gesellschaft im Sinne einer ethischen Ästhetik zu prägen. Ein Schwergewicht ist die Partei nicht geworden, aber immerhin: Es gibt sie immer noch. Statt der von mir vermissten Gefühlseffusionen diese Beharrlichkeit der Künstlerinnen und Künstler im Schaffen, unterstützt auch von Institutionen, und ein doch recht treues Publikum. Vieles scheint hier möglich, und vieles hat Bestand. 

Fünf Jahre lang, bis zur Pandemie, veranstaltete ich monatliche Benefiz-Lesungen für die Flüchtlinge auf Lesbos und Samos: Die Schreibenden traten unentgeltlich auf, niemand schlug je eine Einladung aus. Um die Lesungen bildete sich eine Szene, eine begeisterte, die Vorstellung kam auf, man könnte mit der Kunst vielleicht doch die Welt retten, im Kleinen, indem man trotzig Zeichen setzt, in der Art, dass am Anfang jedes künstlerischen Schaffens der Mensch steht – und die Menschlichkeit.

Kunst und Erlösung

Im Lockdown gründete ich mit meinem Mann, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, den Telegramme Verlag. Es ist ein tief beglückendes Unterfangen, Bücher in die Welt zu setzen; dennoch wünschen wir uns manchmal, dass ein be-geisterter Mäzen dazustossen möge.

Kann Kunst die Gesellschaft empathischer machen? Gewiss: Indem sie unsere Begeisterung entfacht, wie auch immer diese Begeisterung sich manifestiert. 

Vor Jahren habe ich den Frontman von «Rising Shadows» in einer Bukarester Kirche wiedergesehen. Er machte Niederwerfungen vor den Ikonen, mit Elan, dass es nur so rauschte von seinem schwarzen Umhang. Er wurde Mönch – wie Nicolae Steinhardt.

Die Schriftstellerin Dana Grigorcea lebt in Zürich. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Die nicht sterben».