Recherche 29. Juni 2023, von Anouk Holthuizen

«Mutter zu werden ist Wertschöpfung»

Ökonomie

Ina Praetorius schreibt Bücher zu unbezahlter Care-Arbeit. Die Fürsorge für Menschen und die Natur ins Zentrum ökonomischen Denkens zu setzen, sei von höchster Dringlichkeit.

Sie haben am Kirchentag in Nürnberg ein Referat zur Care-zentrierten Ökonomie gehalten und gerade zwei Bücher dazu veröffentlicht. Wie kommt es, dass eine Theologin so für dieses Thema weibelt? 
Ina Praetorius: Ich beschäftigte mich schon als Studentin der Sozial- und Wirtschaftsethik mit Fragen rund um die unbezahlte Sorge-Arbeit. Mit der unsichtbaren «privaten» Arbeit also, auf der unsere kapitalistische Wirtschaft basiert. Das Thema treibt mich heute mehr um denn je, zumal wir mit einer existenziellen Krise konfrontiert sind: dem Klimawandel. Wir müssen uns abwenden von der profitgetriebenen Ökonomie und die Fürsorge für Menschen und Natur ins Zentrum rücken.  

Wird das gelingen? 
Im Mai fand im Europa-Parlament ein grosser Kongress mit dem Titel «Beyond growth» («Über das Wachstum hinaus») statt. Es ging um die dringend notwendige Transformation von der wachstumsorientierten Wirtschaft hin zu einem sozial und ökologisch verträglichen Konzept von Wohlstand. Auch Care-Arbeit war prominentes Thema. Insider bezeichnen diesen Kongress als epochales Ereignis, was mich optimistisch stimmt. Das Echo in den Medien war aber zu gering. Wir werden immer noch täglich über die Börsenkurse informiert, aber nur alle paar Monate über zukunftsfähige Care-zentrierte Ökonomie.  

Frauen machen mehr als die Hälfte der Weltgemeinschaft aus. Warum hat Care-Arbeit, die traditionell ihnen zugeschrieben wird, dann so einen schlechten Status? 
Dafür gibt es viele Gründe, die zurückreichen bis in die antike Sklaverei. Weil die traditionelle Idee der «heiligen Familie» immer noch nachwirkt, drückt man Care-Arbeit ungern in Zahlen aus. Sie gilt vielen als selbstlose «Liebe». Entsprechend sind Frauen zu wenig organisiert. Hätten Pflegende und Kindergärtnerinnen so starke Lobbys wie Bauern oder Metallarbeiter, wären sie eine starke Kraft im Kampf für eine gute Zukunft. Viele Frauen nehmen ihre eigene Existenz noch nicht als Teil der Wirtschaft wahr. Doch das ändert sich gerade. Die Wirtschaftswissenschaft ist zum Glück inzwischen keine Männerbastion mehr. Und Aktionen wie der Frauenstreik mobilisieren massiv.

Viele Frauen nehmen ihre eigene Existenz noch nicht als Teil der Wirtschaft wahr. Doch das ändert sich gerade.

Der Wohlstand wird in der Schweiz aber nach wie vor am Brutto-inlandprodukt gemessen: am Wert aller bezahlten Waren und Dienstleistungen. Unbezahlte Care-Arbeit kommt darin nicht vor.  
Über die Frage, was Wohlstand und Fortschritt sind, wird weltweit intensiv diskutiert. Inzwischen sagen auch die meisten Ökonominnen und Ökonomen, dass das Bruttoinlandprodukt für das Wohlergehen einer Gesellschaft kein aussagekräftiger Massstab ist. Dennoch hat man es in der Schweiz und in vielen anderen Ländern als offizielle Messlatte noch nicht aufgegeben. Andere Länder wie Neuseeland, Finnland, Schottland, Wales, Island und inzwischen auch die Grossmacht Kanada sind diesbezüglich einiges weiter. 

Was machen sie anders? 
Sie führen zum Beispiel Statistiken zu psychischer Gesundheit und Arbeitszufriedenheit und richten staatliche Investitionen daran aus. Sie haben die «Wellbeing Economy Governments»-Partnerschaft gegründet, in der sie einander ermutigen, den Wohlstand anhand verschiedener Parameter zu messen, nicht nur mittels BIP. In diesen Ländern sind Frauen übrigens stark in der Regierung vertreten. Wir müssten bloss das Konzept übernehmen.  

Darf man die Annahme der Initiative «für eine starke Pflege» nicht auch als Zeichen verstehen, dass sich auch hierzulande die Prioritäten ändern? 
Ja, das war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Er wurde begünstigt durch die Corona-Pandemie, die Care-Arbeit deutlich als systemrelevant sichtbar machte. Die Alterung der Gesellschaft und der Klimawandel beschleunigen ebenfalls die Debatte über eine gute globale Zukunft. In Deutschland, der Schweiz und Österreich gibt es viele Initiativen, die hoffentlich bald zur koordinierten Bewegung werden. Sie kommen in unserem Buch «Wirtschaft neu ausrichten» zur Sprache. Die Politik allerdings fokussiert noch immer auf einzelne Forderungen, etwa die Kita-Frage. Notwendig ist aber eine Gesamtsicht der Care-Bedarfe und eine koordinierte Investitionspolitik. 

Wie würde eine Care-zentrierte Wirtschaft aussehen? 
Diese Frage diskutieren wir, ohne uns zu schnell auf eine einzige Option festzulegen. Zum Beispiel ist umstritten, wie die Rolle des Staats in Zukunft aussehen soll. Wichtig ist mir persönlich derzeit die Arbeit an der Sprache. Es ist zum Beispiel absurd, dass eine Frau, die ein Kind bekommt und beruflich kürzertritt, als «Humankapitalverlust» bezeichnet wird und beim Wiedereinstieg einen schlechteren Lohn erhält als ihre männlichen Kollegen. Kinder in die Welt zu bringen, ist doch ein Humankapitalgewinn! Konsumenten und Fachkräfte müssen ja alle erst einmal geboren und aufgezogen werden. Im Privathaushalt findet statt, was die Ökonomie «Wertschöpfung» nennt. 

Fürsorge hat in der Kirche einen hohen Stellenwert. Wäre sie nicht eine gute Werbeträgerin für Care-Arbeit?  
Die Kirche könnte sich in ökonomische Debatten vor allem mit ihrem Menschenbild einbringen. Das gängige Leitbild des Homo oeconomicus ist unrealistisch, es blendet Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Unvollkommenheit systematisch aus. Religionen hingegen haben nie bestritten, dass alle Menschen abhängig sind. Das Problem ist aber, dass unsere Angewiesenheit in den grossen Monotheismen meist patriarchal gedacht wird: als Abhängigkeit von einem allmächtigen Herrn, Vater, Schöpfer, König ...

Religionen haben nie bestritten, dass alle Menschen abhängig sind. Das Problem ist aber, dass unsere Angewiesenheit in den grossen Monotheismen meist patriarchal gedacht wird: als Abhängigkeit von einem allmächtigen Herrn, Vater, Schöpfer, König ...

Und was bedeutet das für das Menschenbild? 
Die Kirche sagt, dass wir Menschen nicht in erster Linie voneinander, sondern von einem göttlichen Mann abhängig sind, der «oben» die Fäden zieht. Das spiegelt autokratische Verhältnisse. In Wirklichkeit sind wir abhängig von der Natur und von unseren Mitmenschen. Wäre die Kirche transformationsbereit, würde sie ihr Menschen- und Gesellschaftsbild revidieren und ausdrücklich an andere Traditionen anknüpfen, die in Bibel und Kirchengeschichte auch vorhanden sind. Damit könnte sie zu einer ökosystemrelevanten Kraft werden. 

Verliert die Kirche nicht ihre Legitimation, wenn sie den traditionellen Gottesbegriff aufgibt? 
Die Kirche verliert an Autorität, gerade weil sie an ihrer patriarchalen Weltsicht festhält. Wenn sie aber zum Beispiel an Weihnachten Gott ausdrücklich als Baby feiern würde, also als Urbild menschlicher Angewiesenheit, dann wäre das so traditionsgetreu wie innovativ: Nicht mehr der erwachsene starke Mann ist die Mitte von allem, sondern das abhängige, neugierige, auf die Zukunft gerichtete Kind. Ich kenne kein traditionelles religiöses Motiv, das in der heutigen Krise hilfreicher sein könnte als dieses.

Zwei neue Bücher zu Care-Arbeit

Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline Tecklenburg: Wirtschaft neu ausrichten. Budrich, 2023, 200 Seiten, Fr. 34.90 
Ina Praetorius, Uta Meier-Gräwe: Um-Care. Patmos, 2023, 160 Seiten, Fr. 19.–