Recherche 29. März 2021, von Felix Reich

Auf der Kanzel wird nicht gedichtet

Theologie

Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller und Pfarrer Kurt Marti geboren. In seinen Predigten weist er oft den Weg zum Glauben, indem er sich von der Bibel irritieren lässt.

Ein berühmter Dichter auf der Kanzel, das füllt die Kirche. Doch wenn Kurt Marti in Bern predigte, stand kein Schriftsteller auf der Kanzel, sondern ein Pfarrer. Indem er predigte, statt zu dichten, unterlief er bewusst die Erwartungen.

«Etwas enttäuscht zotteln sie wieder ab.» So schreibt er einmal über die Gottesdienstgäste, die den berühmten -Literaten im Talar erleben wollten.

Historisch und aktuell

Marti, der am 31. Januar 100 Jahre alt geworden wäre, hat Literatur und Pfarrberuf stets auseinandergehalten. Dennoch waren seine Predigten von derselben sprachlichen Präzision und von einem ähnlichen politischen Engagement geprägt.

Anders als im Gedicht, das von seiner Polyfonie lebt, erklärt Marti auf der Kanzel präzis, bettet biblische Texte in ihren historischen Kontext ein und kann sie auf diesem Boden fruchtbar machen für seine Zeit. Das zeigt erneut die Predigtsammlung «Gottesbefragungen», welche Andreas Mauz und Ralph Kunz im TVZ herausgegeben haben.

Die Trauer als Protest

Besonders eindrücklich ist die Predigt, die Marti an der Abdankung für den Poeten Mani Matter im November 1972 hielt. Der Pfarrer nähert sich dem Predigttext fast widerwillig, vorsichtig tastend: «Als letzter Feind wird der Tod besiegt werden» (1 Kor 15,26). Marti beginnt in der Opposition: «Der Tod ist der grosse, grässliche Sieger, wir alle sind besiegt und zerschlagen.»

Der Tod hat die Macht, aber nicht das Recht auf seiner Seite.
Kurt Marti (1921–2017)

Aus der Irritation wächst die Nähe zu Gott. Der Zorn der Trauer ist ein nutzloser, aber nicht sinnloser Protest gegen den Tod. Denn in seiner Feindschaft zum Tod hat der Mensch mit Gott einen Verbündeten. Der Tod habe die Macht, nicht das Recht, sagt Marti. Und Gott, der «eher auf der Seite der Zerstörten und Vernichteten zu finden» sei, habe den Tod ins Unrecht versetzt.

In einer zerrissenen Welt

Der Pragmatiker möge über diesen Auferstehungsglauben nur den Kopf schütteln. Dennoch bekennt sich Marti just in der schmerzhaften Niederlage gegen den Tod zur Liebe zu einem Gott, «der nicht einfach eins ist mit dem Faktischen». 

Zur Theologie findet Marti in der Armee. Er dient während des Zweiten Weltkriegs in einer Gebirgsjägerkompanie, als seine Neugier auf die Theologie erwacht. Vor dem Einzug ins Militär hatte er zwei Semester Rechtswissenschaften studiert. Nun fragt er sich, «was diese blutig zerrissene Welt im Innersten dennoch zusammenhält». Kurz nach dem Krieg geht Marti 1947 nach Paris und betreut als Seelsorger im Auftrag des Ökumenischen Rats der Kirchen Kriegsgefangene. 

Kreativität in der Isolation

1950 heiratet er Hanni Morgenthaler. «Immer habe ich mich davor gehütet, aus dem Glücksfall unserer lebenslangen Liebe und Ehe und schliesslich aus dem gemeinsamen Altwerden Rezepte abzuleiten», hält er später in seiner Biografieskizze fest, in der er auch sein Elternhaus beschreibt. Sein Vater war Notar, die Mutter umsorgte ihn «mit Liebe und Ängstlichkeit». Nachmittags steckte sie das kränkliche Kind oft für zwei Stunden ins Bett.  

«Ausgeschlossen, eingeschlossen liege ich lächerlich im Bett, lächerlich im Pyjama, während draussen die Sonne brennt, das Leben blüht und grosse Dinge geschehen, die ich verpasse.» Dennoch verortet Marti in diesem erzwungenen Rückzug die Wurzel seiner poetischen Kreativität: «Ist so das Innenleben in Fahrt gekommen?» In den Stunden der Schonung erwacht seine Leidenschaft für die Literatur.

Wie versucht, der Versuchung schon erlegen, wir in der Wüste unseres Wohlstands doch sind.
Kurt Marti (1921–2017)

Der erste Gedichtband des Pfarrers erscheint erst 1959. Zwei Jahre später wechselt er von Niederlenz an die Nydeggkirche in Bern, wo er bis 1983 bleibt. Seine konkrete Poesie ist von Beginn an politisch. Marti schliesst sich dem Protest gegen den Vietnamkrieg und gegen Atomkraftwerke an, der ehemalige Infanterist setzt sich für Kriegsdienstverweigerer ein.

Sein Engagement kostet ihn 1972 eine Professur für Homiletik an der Universität Bern. Der Regierungsrat stellt sich dem Vorschlag der theologischen Fakultät entgegen und wählt ihn nicht.

Erfrischend konventionell

Dass Marti die Kompetenz dazu gehabt hätte, lässt sich in den «Gottesbefragungen» gut nachlesen. Er beschreibt, wie Jesus auf dem Passionsweg gegen den «Aberglauben an die Gewalt» antritt, oder prangert an, «wie versucht, der Versuchung schon erlegen, wir in der Wüste unseres Wohlstands sind».

Martis erfrischend konventionelle Predigten sind aufrüttelnd und tröstlich, kämpferisch und hintersinnig und immer inspirierend.