Schwerpunkt 14. Juni 2018, von Delf Bucher

Christen kämpfen um ihre Existenz

Verfolgung

Standhalten oder flüchten? Das ist die existenzielle Frage für Christen und Jesiden im Nordirak. Ein Reisebericht.

«Von Reisen in den Irak, einschliesslich der Region Kurdistan, wird abgeraten», so lautet die Empfehlung auf der EDA-Homepage. Mit Emanuel Youkhana, Erzdiakon der «Assyrischen Kirche des Ostens» und Direktor des Hilfswerks CAPNI, dagegen lässt sich problemlos jeder improvisierte Wachposten passieren. «Das funktioniert dank meiner Schmuggler-Uniform», sagt der Geistliche mit einem Lachen. 

Für die Fahrt in die Ninive-Ebene mit ihrer Hauptstadt Mossul im Norden Iraks, auf welche die Kurden, die irakische Zentralregierung und die schiitischen Volksmilizen gleichermassen Anspruch erheben, hat Youkhana sein schwarzes Hemd mit Römerkragen angezogen. Der Priester-Look verleiht ihm selbst gegenüber muslimischen Soldaten eine gewisse Autorität. 

Wiederaufbau durch NGOs

Eigentlich hatte Youkhana gehofft, dass nach der Befreiung der Ninive-Ebene von der Terrorherrschaft des Islamischen Staats die Zentralregierung in Bagdad die Infrastruktur rasch wieder aufbauen würde. Und den zurückkehrenden Christen und Jesiden, die von der Terrormiliz IS gewaltsam vertrieben worden waren, einen Autonomiestatus zubilligen würde. «Nichts davon ist bisher passiert», sagt er. Hilfswerke wie CAPNI oder Caritas hätten den grössten Anteil daran, dass manche Binnenflüchtlinge die Geisterstädte wieder belebten. 450 zerstörte Häuser und 29 Schulen hat die auch von der Zürcher Landeskirche unterstützte christliche Hilfsorganisation CAPNI wieder aufgebaut. 

Der Geistliche hält vor einem Landstück mit abgestorbenen Olivenbäumen. Die düstere Kulisse erinnert an die Zeit, als die IS-Schergen die Stadt Bahzani besetzten und die Landwirtschaft verkommen liessen. Youkhana nimmt dem Bauern den Schlauch aus der Hand und giesst mit dem Wasser aus dem neu gefassten Brunnen kleine Schösslinge, aus denen dereinst ein neuer Ölbaumhain wachsen wird. 

Bahzani ist nicht nur berühmt für Oliven. Hier haben die Kurdenmiliz Peschmerga und die irakische Armee im Oktober 2016 das Endge-fecht gegen den IS ausgetragen. Am Dorfrand schiebt ein Bagger die Trüm-mer eines Kindergartens weg. Nun steht der Wiederaufbau an. 

Der Ingenieur will bleiben

Bauingenieur Sinan Khayri Ibrahim lässt seinen Kontrollblick über den Bauplatz schweifen. Im August 2014 sind der irakische Christ und seine Familie ins kurdische Autonomiegebiet geflüchtet. Nun will er in Bahzani bleiben, sein Ingenieurwissen für den Wiederaufbau einsetzen. Eine halbe Stunde später, im Haus der Familie Ibrahim: Im begrünten Innenhof arrangieren Frau-en grillierte Fische, Lammfleisch, Hackfleischbällchen, Oliven, Knoblauchjoghurt und eingelegte Peperoni zu einer Sinfonie orientalischer Gastfreundlichkeit. Beim türkischen Kaffee nach dem Festessen zeigt der Ingenieur auf eine Wand, an der sich hell ein Kreuz abzeichnet. «Die IS-Schergen haben es heruntergerissen.» Doch letztlich habe seine Familie Glück gehabt. Das Haus mit seinem lauschigen Garten wurde verschont. Die IS-Terroristen bewohnten es selbst.

Mit am Tisch sitzt Sinan Khayri Ibrahims Freund Achmed, ein Sunnit. Die Freundschaft der beiden hat den religiös motivierten Bürgerkrieg überstanden. Achmed ist froh, dass die IS-Schreckensherrschaft beendet ist, in der vom Rauchen übers Filmeschauen bis zum Fussballspielen alles verboten war. 

Ibrahim betont: «Wir dürfen unsere sunnitischen Nachbarn nicht pauschal als IS-Anhänger verdächtigen.» Nur so sei ein friedliches Miteinander möglich. Nicht allen gelingt das. Immer wieder hört man die Geschichte vom muslimischen Nachbarn, der sich am zurückgelassenen Besitz von Christen bereichert hätte.

2000 Jahre Christentum

Im blühenden Idyll des Innenhofs versteht man den Entscheid der Familie Ibrahim, da zu bleiben. Anders in der übrigen Ninive-Ebene mit ihren oft menschenleeren, zerbombten Dörfern, mit ihren Gesundheitsstationen, in denen die Arz-neischränke leer sind, den Schul-häusern mit den zersplitterten Wandtafeln. Trotzdem sagt Erzdiakon Emanuel im Auto den Satz, den er schon im deutschen Bundestag und an internationalen Konferenzen vorgetragen hat: «Seit 2000 Jah-ren siedeln Christen hier. Sie haben einen kulturellen Reichtum geschaffen, der in der Diaspora niemals am Leben erhalten werden könnte.» 

Verlassene Gefechtsunterstände, Gräben und aufgeschichtete Sandsäcke erinnern am Strassenrand an die blutigen Kämpfe, die hier noch vor zwei Jahren stattgefunden haben. Youkhana lässt sich davon nicht beirren. Für ihn gehört die jahrhundertelange Verfolgungsgeschichte der Christen in der Ninive-Ebene zur DNA des östlichen Christentums: «Für uns war immer klar, dass das Leiden vor der Auferstehung kommt.» Auch politisch sei das Verbleiben der religiösen Minderheiten wichtig. «Wir sind der Lackmustest, ob die Menschenrechte eingehalten werden.» 

Ferienhaus als Fluchtburg

An der Peripherie von Dohuk im kurdischen Autonomiegebiet, wo die letzten Supermärkte stehen und das weite Ackerland beginnt, hat die christliche Familie von Anmar Muner aus Mossul vor dem schicksalsträchtigen Jahr 2014 ein Ferienhaus gebaut. Eine leise Ahnung, dass die ihre Fluchtburg werden sollte, hatten sie damals schon. Bereits 2007 kam es zu Ausschreitungen von Islamisten und die Familie verliess aus Sicherheitsgründen für einige Wochen die Stadt. Zwei Jahre später wurde ein Cousin von Muners Vater ermordet. «Die Vertreibung der Christen begann nicht erst im August 2014», sagt Muner. 

Die Abendsonne bringt ein Weihnachtsplakat von 2014 zum Leuchten. Warum es immer noch an der Wand hängt? «Es erinnert uns an einen Moment des Glücks, als wir nach langem Bangen wieder als Familie vereinigt waren», erzählt Muner. Und als 2017 in Mossul ganz in der Nähe seines verlassenen Hauses in der syrisch-orthodoxen Kathedrale wieder Weihnachten gefeiert wurden, war dies nicht auch ein Moment des Glücks? «Das war eine Show für die Weltpresse. Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun.»

Der grosse Exodus

Die Wirklichkeit sieht so aus: Wenn Muner in seinem VW wieder mal eine Spritztour in seine Heimatstadt unternimmt, verlässt er Mossul spätestens in der Abenddämmerung. «Unsere Stadt ist nicht mehr sicher für Christen.» Und er setzt nach: «Es wird nie mehr so werden, wie es war». So umschreiben viele Christen die Lage im Irak. 2003 lebten noch mehr als eine Million Christen im Zweistromland. Heute sind es weniger als 300 000. 

Nicht zufällig trägt Muner ein T-Shirt mit der Aufschrift «Canada». Kanada ist das Sehnsuchtsland vieler irakischer Christen. Mit seinem gepflegten Englisch hätte der Buchhalter beste Chancen, die Hürden der kanadischen Einwanderungsbehörde zu nehmen. Doch seine Eltern, die er nicht allein im Nordirak zurücklassen will, hindern ihn, seinen Traum vom Auswandern zu verwirklichen. Warum aber will er nicht im Land bleiben? 

«Den Kurden traue ich nicht», sagt Muner. Das Misstrauen gegen die Kurden ist verbreitet unter Christen und Jesiden. Denn im Sommer 2014 verliess die zuvor so triumphierende Kurdenmiliz Peschmerga ihre militärischen Stellungen ebenso fluchtartig wie die irakische Armee. Und überliess die Dörfer den IS-Terroristen, die Tausende von jesidischen Männer ermordeten, und Tausende von Frauen und Kindern versklavten.

Die «Sexsklavinnen» des IS

Im August 2014 änderte sich auch das Leben von Nadia Murad einschneidend. Verschleppt von IS-Terroristen wurde die Jesidin weitergereicht von Kämpfer zu Kämpfer. Bis einer von ihnen vergass, die Türe zu schliessen. Mit Hilfe einer muslimischen Familie gelang ihr die Flucht. Sie war eine der Ersten, die laut die sexuelle Gewalt der Scharia-Moralisten anprangerte. Die IS-Propagandisten rechtfertigten das Vergewaltigen der Jesidinnen damit, dass diese «Teufelsanbeterinnen» seien. Nadia Murad, heute Uno-Sonderbotschafterin gegen Menschenhandel, wurde zur Symbolfigur dieses brutalen Verbrechens.

Ein tragischer Umstand hat es Mu-rad erleichtert, überhaupt von den Vergewaltigungen zu berichten: Ihre Familie wurde ausgelöscht. Sie musste zuschauen, wie ihre Mutter und ihre Brüder vom Mordkommando aussortiert wurden. Somit griff das archaische Gesetz der Ehre, wonach eine Frau, die von einem Andersgläubigen berührt wurde, von der Familie geächtet oder gar getötet werden muss – selbst wenn sie vergewaltigt wurde – bei ihr nicht mehr.

Alte Gesetze aufgehoben

Das Schicksal der zurückgekehrten «Sex-Sklavinnen» bewegte auch den jesidischen Publizisten und Men-schenrechtsaktivsten Khider Domle. In der Hotel-Lounge in Dohuk erzählt er, wie er und befreite Frauen das geistliche Oberhaupt der Jesiden, Baba Sheikh, besuchten. Eindringlich hat Domle auf den über 80-Jährigen eingeredet, das archaische Ehrengesetz ausser Kraft zu setzen: «Wenn wir nicht handeln, verlieren wir viele Menschen unserer Gemeinschaft, die internationale Unterstützung für unsere Minder-heitenrechte und unser Image eines friedfertigen Volkes.»

Baba Sheikh erklärte darauf öffentlich: «Die überlebenden Frauen sind bei uns willkommen und verdienen die Unterstützung unserer Gemeinschaft.» Das alte Gesetz war aufgehoben. Baba Sheik kreierte spezielle Liturgien für den Pilgerort Lalish, um den Frauen symbolisch ihre Reinheit zurückzugeben. 

Das Lachen der Verfolgten

In Lalish, dem Heiligtum der Jesiden, drängen bunt gekleidet Frauen und Männer mit rot-weissen Turbanen. Barfuss. Denn der Boden ist heilig. In das Sakrale des Pilgerorts mischt sich das fröhliche Gelächter eines Volksfestes. Mädchen in weissen Tüllkleidern schlecken an Wassereis, grosse Familien picknicken auf Teppichen. Die Szenerie lässt fast vergessen, dass die Jesiden vor vier Jahren vomVölkermord bedroht waren.

Die Fröhlichkeit der Jesiden ist eine Demonstration, dass das Leben weitergeht. In einer düsteren Halle sind im Zwielicht lange bunte Stoffbahnen zu sehen. Jeder kann in die Tücher einen Knoten binden. Andere kommen hinzu und knoten den Stoffknäuel wieder auf – eine Art Erlösungsritual.

Das Lachen der Jesiden in Lalish, der zähe Wille von Emanuel Youkhana zum Wiederaufbau, die jungen Olivenbäume – all das gibt Hoffnung, dass Leid und Hass nicht das letzte Wort haben in der Ninive-Ebene.

Zürcher Landeskirche leistet Hilfe im Irak

Der irakische Erzdiakon Emanuel Youkhana studierte zuerst Elektroin­ge­­nieur, bevor er sich in den Dienst der Assyrischen Kirche des Ostens stellte. 1993 gründete er das Hilfswerk CAPNI (Christian Aid Program Northern Iraq), das seither Nothilfe im Nord­irak leistet. Morddrohungen zwangen ihn und seine Familie ins deutsche Exil. Heute lebt er wieder weitgehend im Irak und hat dort vor allem nach der humanitären Krise, ausgelöst durch die IS-Terrormilizen, das Werk zu einem wichtigen Player für den Wiederaufbau der zerstörten christlichen und jesidischen Dörfer eatbliert. Die Zürcher Landeskirche ist ein langjähriger Partner von CAPNI.

Spenden: PC 80-2020-8. Ev.-ref. Landeskirche des Kantons Zürich, 8001 Zürich. Konto 200510/Bedrängte Christen