Schwerpunkt 24. Januar 2023, von Nadja Ehrbar

«Die Seele des Kindes ist verletzt»

Adoption

Eine Adoption hinterlässt bei allen Betroffenen Spuren. Psychologin Irmela Wiemann erklärt, wie sie gelingen kann und warum es für das Kind wichtig ist, seine Herkunft zu kennen.

Welchen Einfluss hat die Trennung von der leiblichen Mutter auf die Persönlichkeit eines Kindes?

Irmela Wiemann: Sie ist für jedes Kind eine ganz schmerzliche Erfahrung und geht mit einer lebenslangen Trau­er und Verunsicherung einher. Sie äussert sich in mehr oder weniger stark ausgeprägten Verlust- und Bindungsängsten gegenüber den Adop­tiveltern. Denn das Kind wurde weggegeben und befürchtet, dass es nochmals passiert.

Ist das auch bei Kindern so, die als Babys weggegeben wurden?

Ja. Denn auch Babys registrieren diesen ersten, sehr frühen Verlust. Man hat beispielsweise im Gehirn von Säuglingen, die von Leihmüttern geboren wurden, auch noch eine Woche nach der Trennung starke Erregungen fest­gestellt.

Bedeutet diese Verlusterfahrung, dass es Adoptivkinder schwerer im Leben haben, etwa anfälliger für psychische Belastungen sind?

Nicht alle. Es gibt Statistiken, die belegen, dass die eine Hälfte im Alter von 25 Jahren die Integration in die Gesellschaft gut gemeistert hat, die andere aber mit Selbstwert-, Leis­tungs-, Bindungs- und auch Suchtproblemen kämpft. Betroffene denken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt und sie den Ansprüchen von Adop­tiveltern, Schule und Gesellschaft nicht gewachsen sind. Sie reagieren etwa mit Aggressionen.

Irmela Wiemann, 80

Irmela Wiemann, 80

Die Psychologin, Familientherapeutin und Autorin arbeitete zwischen 1974 und 2007 in der Kinder-Jugend-Elternberatung der Kommunalen Kinder-,
Jugend- und Familienhilfe der Stadt Frankfurt am Main. Seit 1978 hat sie sich auf die Beratung und Therapie von Pflege-, Adoptiv- und Herkunftsfa­milien spezialisiert. Wiemann berät Institutionen und führt seit 40 Jahren
Weiterbildungen durch.

Weshalb kommt es meistens in der Pubertät zu einer Krise? Sind Konflikte mit den Eltern in jener Zeit nicht normal?

Dass Jugendliche ein Gefühlsdurcheinander und Angst vor dem Leben haben, gehört zur Pubertät. Doch beim adoptierten Kind kommt das Gefühl hinzu, nicht zur Adoptivfamilie zu passen und deren Erwartungen nicht zu erfüllen.

Ist aggressives Verhalten also ein Ausdruck von Hilflosigkeit?

Wegen früher seelischer Verletzungen können viele Kinder ihre Impulse nicht steuern. Bei den meisten entsteht die Aggression aber aus der Not heraus, aus dem Gefühl, nicht zu genügen. Sie richtet sich gegen die heile Welt und die Ansprüche der Adoptiveltern. Die Kinder, die adoptiert wurden, gehen bewusst oder unbewusst davon aus, dass sie ihren leiblichen Eltern gleichen.

Was können Adoptiveltern tun, damit eine Adoption gelingt?

Sich gut fortbilden. Und lernen, dass wenn ein Kind aggressiv ist, stiehlt oder etwas zerstört, sich diese Hand­lungen nicht gegen sie persönlich richten. Es war anfangs niemand da, an dem sich das Kind orientieren konnte. Übliche Erziehungsmethoden wie etwa Sanktionen sind deshalb schädlich.

Weshalb?

Die Seele des Kindes ist verletzt. Deshalb braucht es eine ruhige und stress­freie Atmosphäre für die Heilung. Schimpfen oder bestrafen die Adoptiveltern, wird die gerade neu aufgebaute Bindung erschüttert. El­tern müssen also verständnisvoll und geduldig reagieren. Das kann sehr anstrengend sein.

Insbesondere wenn Freunde oder Verwandte denken, das Kind tanze ihnen auf der Nase herum.

Genau. Sie dürfen sich nicht verunsichern lassen und müssen erklären, dass das Kind unter anderen Lebensbedingungen gestartet ist.

Die beste Antwort auf «Ich hasse euch!» lautet: «Und ich liebe dich.»

Was tun, wenn das Kind zu den Eltern sagt: «Ich hasse euch!»

Sich bewusst werden, dass das Kind nicht die Adoptiveltern hasst, sondern deren Macht und die Abhängigkeit von ihnen. Und es dann nicht zurückweisen, sondern Verständnis zeigen, in den Dialog treten, von Mensch zu Mensch. Die beste Antwort lautet: «Und ich liebe dich.» Be­ziehung muss in diesem Fall vor Erziehung kommen.

Wie wichtig ist es für die Kinder, ih­re wahre Herkunft zu kennen?

Sehr wichtig. Ich rate dazu, sie ihnen schon im Alter von zwei bis drei Jahren zu vermitteln. Das kann auf kindgerechte Art geschehen, indem man ein Album mit Texten und Fotos oder Zeichnungen zur Lebensgeschichte anlegt. Wichtig ist, dass die Adoptiveltern die Herkunfts­familie achten.

Können Adoptivkinder den Trennungsschmerz je überwinden? Kann eine Therapie helfen?

Eine Therapie kann die Kinder weder heilen noch auffangen. Die Adoptiveltern sind dem Kind am nächs­ten. Wichtig ist, dass sie der Trauer Raum geben. So kann das Kind wieder lebensfroh werden.

Wie wirkt sich ein Treffen mit den Herkunftseltern aus?

Sehr unterschiedlich. Es gibt solche, denen reicht eine Begegnung. Bei vielen aber entsteht eine neue Beziehung. Doch es ist harte Arbeit, eine angemessene Dosierung zwischen Nähe und Distanz zu finden. Manchmal kommt kein Kontakt zustande, weil Mütter oder Väter sich nicht trauen. Auch sie haben ihr Kind nicht vergessen.

Wenn sich Mutter und Sohn in die Arme fallen und weinen, dann ist das eine gute Begegnung.

Für Aussenstehende ist es befremdlich, wenn sich Mutter und Sohn beim Wiedersehen in die Arme fallen, obwohl sie Jahre keinen Kontakt hatten. Was sagen Sie dazu?

Die innere Verbindung zwischen Kind und Mutter bestand ja auch ohne persönlichen Kontakt. Herkunftseltern trauern und kämpfen ebenfalls mit Schmerz. Wenn sich Mutter und Sohn in die Arme fallen und weinen, dann ist das eine gute Begegnung. Indem die Mutter ihre Trauer zeigt, kann sie den Grundschmerz des Kindes, dass seine Mutter es nicht wollte, lindern.

Müssen Adoptionsgeschichten immer individuell betrachtet werden?

Ja. Es spielen die Haltung der Adoptiveltern, die Situation der leibichen Eltern und die Erwartungen des jungen Menschen eine Rolle. Wie auch immer es sich gestaltet: Das gilt es zu akzeptieren. Adoptierte und Herkunftseltern müssen daran arbeiten, es so anzunehmen.

Was sind die wichtigsten Faktoren für eine gelungene Adoption?

Adoptionen gelingen dann, wenn die Adoptiveltern feinfühlig und tolerant sind, auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen und von Anfang an der Herkunftsfamilie des Kindes einen festen Platz in seinem Leben einrichten.