Schwerpunkt 24. Januar 2023, von Mayk Wendt

In der fremden Heimat die Antwort suchen

Adoption

Sebastián stammt aus Kolumbien und wurde vierjährig von einer Schweizer Familie adoptiert. 18 Jahre später reist er in seine fremde Heimat – mit existenziellen Fragen.

Der warme Tropenregen empfängt ihn. Beim Verlassen des Flughafens von Medellín hält Sebastián kurz inne, nimmt seine Sonnenbrille ab, atmet tief ein: «Das riecht nach Heimat.» Seine Brille hat Sebastián auf dem ganzen Flug über den Atlantik nie abgenommen. Rund 9000 Ki­lo­meter weiter östlich, in Zürich, ist er abgehoben, und jetzt steht er im Nordwesten Kolumbiens, in der Mil­lionenstadt Medellín auf 1500 Metern Höhe, umgeben vom mittleren Bergzug der Anden. Es ist Ende November, als er die Heimat betritt.

Der 22-Jährige sucht Antworten auf offene Fragen in seinem Leben. «Wenn du an deine Mutter denkst», sagte Sebastián einmal, «erinnerst du dich, wie sie dich liebevoll in den Arm genommen hat, oder?» Er habe keine solche inneren Bilder, es herrsche ein Vakuum im Kopf. Als er zwei Jahre alt war, wurde er zur Adoption freigegeben.

Verheerender Drogenkrieg

Sebastián sucht nach seiner leiblichen Mutter. Sein Vater wurde vermutlich 2002 im Drogenkrieg getötet. Das berüchtigte Drogenkartell um Pablo Escobar hatte Kolumbiens zweitgrösste Stadt damals fest im Griff. Vor 20 Jahren war Medellín weltweit die Metropole mit der höchsten Mordrate.

Wie es zu dieser Recherche kam

Von 2012 bis 2017 war Mayk Wendt in der Leitung der Bergschule Avrona im Engadin tätig. Diese Sonderschule nimmt Jugendliche in Notsituationen auf. Sebastián war im Internat der Institution untergebracht und lernte Wendt 2015 kennen. Während zwei Jah­ren wurde er von ihm intensiv be­gleitet. Auch mit den Adoptiveltern hatte Wendt Kontakt. 2021 meldete sich Sebastián mit einer Kurznachricht und fragte, ob ihn seine einstige Bezugsperson auf die Reise nach Kolumbien begleite. Er wolle seine leibliche Mutter treffen. Wendt hat diese Reise für «reformiert.» dokumentiert.

Als Sebastián am Tag seiner Ankunft durch die Stadtbezirke, die sogenannten Comunas, geht, sieht er immer wieder junge Frauen mit ihren Kindern auf der Strasse sitzen. Zwischen Passanten, der vierspurigen Strasse und Hochhäusern krabbeln Kleinkinder umher. Es ist laut und hektisch. Der Geruch von Frittierfett aus den kleinen Strassen­läden vermischt sich mit den Abgasen der hupenden Busse.

Sebastián bleibt plötzlich stehen. Ein Kind, vielleicht zwei Jahre alt, sitzt vor ihm. «Hier sass ich auch ein­mal», murmelt er. Es scheint, als stie­gen verloren geglaubte Bilder in ihm auf. Laut einem Bericht des Familienministeriums verbrachte Sebastián mit seiner Mutter die ersten zwei Lebensjahre auf der Strasse.

Nachdem mehrere Anzeigen wegen Misshandlung und Vernachlässigung eingegangen waren, wurde das Kind in der Notaufnahmestation des Polizeipostens Comuna Quince Guayabal untergebracht. Damals war Sebastián zwei Jahre alt. Die Mutter, wieder im sechsten Monat schwanger, kam nach dem Kindesentzug noch einmal zur Station, um den Jungen zu sehen. Laut Behörden erkannte sie ihr Kind aber nicht. Das war das letzte Mal, dass Sebastián seine Mutter sah.

Heute, 18 Jahre nachdem seine Adoptiveltern ihn in die Schweiz ge­holt haben, liegt Sebastiáns Unterkunft zwischen den Stadtteilen Nutibara und Fátima. Während der ersten Tage läuft er kilometerweit durch die Comunas. Auf Instagram habe er gesehen, dass es hier Urwald gibt. Er will einen Ausflug in «den Dschungel» machen. Er besucht den Park Arví ausserhalb der Stadt und den botanischen Garten.

Auch das städtische Fussballstadion hat Sebastián schnell entdeckt. Er besucht ein Heimspiel von Independiente. Die über 40 000 Fans verwandeln das Estadio Atanasio Gi­rardot in einen Hexenkessel. Sie sin­gen und bewegen sich rhythmisch zu den Sprechchören. Rot-blaue Feu­erwerkskörper werden abgebrannt. Fussball ist in Südamerika nicht nur Sport und Unterhaltung, es ist eine Religion. Schon immer liebte Sebas­tián den Fussball. In dem kleinen Ostschweizer Ort, wo er aufgewach­sen ist, spielte er einst im Verein.

Wenn die Zeit reif ist

Vor 19 Jahren adoptierten Christina Ammann und ihr Mann den vierjährigen Sebastián und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder. Von Anfang an forderte Sebastián sein Umfeld heraus. Stets war die Familie auf professionelle Hilfe angewiesen.

«Schon als Kleinkind hatte er eine niedrige Frustrationstoleranz und ein aggressives Verhalten», sagt Am­mann heute. Sebastián durchlief verschiedene Sonderschulen, er war in geschlossenen Jugendpsychia­trien, nach einem Raubüberfall vor gut zwei Jahren wurde er zu einer Haftstrafe verurteilt.

Kurz nach der Adoption begann Christina Ammann, Sebastiáns leibliche Mutter zu suchen. Sie tat das ohne Wissen ihres Mannes und der beiden Kinder, um Enttäuschungen zu vermeiden. «Aber ich wollte beiden Jungs irgendwann, wenn die Zeit reif dafür ist, das lange Suchen ersparen», sagt sie heute. 

Wenn du an deine Mutter denkst, dann erinnerst du dich, wie sie dich liebevoll in den Arm genommen hat, oder? Ich habe hingegen keine Bilder, bei mir herrscht ein Vakuum im Kopf.
Sebastián, in Kolumbien geboren und in der Schweiz adoptiert

Als Sebastián 16 Jahre alt war, übergab ihm seine Adoptivmutter im Beisein einer Psychologin die Adoptionsberichte sowie den Briefwechsel zwischen ihr und der leiblichen Mutter Adriana. Seit Ammann sie vor zwölf Jahren ausfindig gemacht hatte, schickte sie Adriana immer wieder Bilder und kurze Berichte über die beiden Kinder.

Es sollten weitere Jahre vergehen, bis Sebastián Interesse an seiner Herkunft entwickelte. Jahre mit Vorwürfen gegenüber den Adoptiv­eltern, warum sie ihn «aus seiner Heimat gerissen hatten».

«Warum hat uns meine Mutter weggegeben?»

Mit dem Wissen kamen die Fragen: «Was für eine Frau ist meine Mutter?» Und: «Warum hat sie uns weggegeben?» Solche Fragen stellt Sebastián in Medellín Maria Muriel. Sie nahm ihn bei sich und ihrer Familie auf, als ihn die Behörden von der Stras­se holten. Das dritte und vier­te Lebensjahr verbrachte Sebastián bei ihr. Was im Jahr davor passierte, wo er damals war, ist bis heu­te unklar und nicht dokumentiert.

Maria Muriel sei eine «richtige Mama», sagt Sebastián. Drei Tage weilt er inzwischen in Kolumbien. Beim Treffen ist eine Vertrautheit zu spüren. Maria Muriel umarmt Se­bastián zur Begrüssung. Wenn er nervös nach Worten sucht in der Sprache seiner Herkunft, die ihm so fremd ist, beruhigt sie ihn. «Tranquilo», sagt sie und legt ihren Arm um seine Schultern. «Deine Mutter hat dich so sehr geliebt, dass sie dich und deinen Bruder weggeben musste.» Sie habe nicht mehr für die Kinder und sich selbst sorgen können.

Beim Treffen dabei ist auch Vivianne, die Tochter von Maria Muriel. Sie zeigt Sebastián Kinderfotos. «Bist du das?», fragt er und zeigt auf das Mädchen, das zwischen ihm und sei­nem Bruder steht. Vivianne übernahm die Rolle der grossen Schwester. «Momente mit anderen Kindern waren selten», sagt Maria Muriel. In den ersten Wochen habe sich Sebastián unter Betten und Tischen ver­steckt. «Er lachte kaum.»

Das Drehbuch des Lebens

Während Sebastián erstmals seit seinem Wegzug in die Schweiz wieder in seiner Geburtsstadt unterwegs ist, stellt er oft existenzielle Fragen. Nach dem Schicksal, der Fügung, die ein Leben bestimmt. Oder ist alles Zufall?

Er, der sagt, Gott sei nicht wichtig, trägt ein Kreuz um den Hals. Es ist mehr als ein Schmuckstück. Immer wieder führt er es an den Mund und küsst es. Das mache er nur in schwie­rigen Situationen. Einem klei­nen Jungen, der vor der Kirche Santa María de Jesús sitzt, gibt er eine Tüte mit Essen und sagt: «Gott ist mit dir.» An die Kirche erinnert er sich. Die Pflegemutter Maria Muriel bestätigt, dass sie dort regelmässig zum Beten waren.

Sehnsucht nach der Heimat

Den Traum, in die Stadt seiner frühen Kindheit zu reisen, hegte Sebastián schon lange. «Von Anfang an sprach er davon, einmal nach Kolumbien zurückzukehren», sagt seine Schweizer Adoptivmutter Christina Ammann ohne Wehmut. Sie war es, die den Weg für diese Rückkehr zu den Wurzeln bereitet hat. Sie stellte den Kontakt zur Pflegemutter Maria Muriel her. Sie suchte jahrelang die leibliche Mutter Adriana und fand sie. Sie beschaffte die Berichte und Unterlagen der kolumbianischen Behörden.

Ob mich meine Mutter wohl er­kennt? Was wird sie sagen? Und was werde ich sagen?
Sebastián

Sieben Tage sind seit der Ankunft in Medellín vergangen. «Morgen besuchen wir meine Mutter», sagt Sebastián plötzlich beim Frühstück im Hotel. Den Satz sagt er so entschlossen wie noch nie.

Der Junge von der Strasse

Am Tag darauf ordnet er im Hotelzimmer seine Sachen, als ordne er sein Leben. Er pfeift ein Kinderlied, dessen Titel er nicht mehr weiss. Danach duscht er, macht sich die Haa­re und betrachtet im Spiegel seine Tätowierung am rechten Unterarm. «Chico de las calles» steht da geschrieben: Junge der Strasse.

Bald wird er erstmals seine Mutter Adriana sehen. Verabredet haben sie sich vor einem Hotel in jenem Viertel, in dem Adriana damals als junge Frau zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen ums Überleben kämpfte. Anders als sonst fahren nun auf den Strassen kaum Autos. Und zum ersten Mal drückt die Sonne durch die Wolkendecke. «Ob sie mich wohl er­kennt?», fragt Sebastián, während er auf seine Mutter wartet. «Was wird sie sagen? Und was werde ich sagen?»

Niemand fragte in den vielen Therapien, was die Ursache meiner Aggressionen sei.
Sebastián

Sie spricht nur spanisch, er kann nur wenige Brocken. «Manchmal ist es besser, nichts zu verstehen», sagt Sebastián. Der 22-Jährige wirkt sen­sibel und verletzlich. Die Drogen und Konflikte mit der Polizei sind weit entfernt. Er hat sie hinter sich gelassen und diese Reise in ein frem­des Land angetreten, um dem Leben einen tieferen Sinn zu geben.

Wie aus dem Nichts taucht Adriana auf. Sie hat ihre Tochter dabei, Sebastiáns Halbschwester. Langsam geht sie auf ihren Sohn zu, umarmt ihn, er zögert. Jetzt trägt er die Sonnenbrille, um die Tränen zu ver­ber­gen. Minutenlang halten sich Mutter und Sohn fest. Leise sagt er: «Mama.» Sonst reden sie kaum miteinander. Später vereinbaren sie ein weiteres Treffen. Sebastián und Adriana lächeln sich an zum Abschied. Beide scheinen glücklich, einander gefunden zu haben.

Das eigene Leben ordnen

Vor dem Abflug in Zürich hatte Se­bastián gesagt, er reise in die frem­de Heimat, um endlich anzukommen. Jetzt ist es so weit, am Rand dieser grossen leeren Strasse. Zwei Wochen sind zu kurz, um ein Leben zu ordnen, Heilung zu erfahren. Sebastián sagt: «Niemand fragte in den vielen Therapien, was die Ursache meiner Aggressionen sei.» Vielleicht könnte in Kolumbien sein Schmerz geheilt werden.

Vor dem Rückflug beschliesst Sebastián, noch ein paar Wo­chen zu bleiben. Er will sein Spa­nisch verbessern, Arbeit finden. Dann möchte er in die Schweiz, seine Sachen holen und mit seinem Leben dort ordentlich abschliessen. Seine Zukunft sieht er in Kolumbien. Doch vorher möchte er seiner Adoptivmutter danken – dafür, dass sie ihn von der Strasse gerettet hat.