Sein Blick streifte über ihren Körper. Ihre straffe Figur
war immer noch jugendlich, aber in ihren krausen dunklen Locken zeigten sich
die ersten grauen Haare. Adam mochte diese Haare, wenn Eva sich an seine
Schulter lehnte, kitzelten die Locken seine Brust. Um die Taille herum war sie
breiter geworden, stellte er fest. Vielleicht lag das an den beiden Geburten,
dachte er.
«Was?» Eva hatte sich umgedreht.
«Stimmt was nicht?»
«Nichts», murmelte sie. «Nichts, was soll schon sein?»
Ja, was sollte schon sein, dachte er. Er griff in den Sand,
die Körner rieselten durch seine Finger. «Alles und nichts», dachte er. «Alles
und nichts!»
***
Eva und er kannten sich schon ewig, eigentlich schon so
lange, wie er denken konnte. Es kam ihm vor, als wäre sie ein Teil seines
Körpers, wie seine Arme oder seine Rippen. Sie sass mit ihm im Sandkasten und
auf der Schaukel, gemeinsam durchliefen sie die Schule, sie liess ihn
abschreiben und er verpasste Kopfnüsse, wenn ihr jemand dumm kam.
Es war klar, dass er nur ihr seine Liebe gestand. Er hatte
keine Schmetterlinge im Bauch, trotzdem war er nervös. Er kritzelte einige
Zeilen auf einen kleinen Zettel, faltete ihn zusammen und schob ihn über das
Pult. Eva nahm das Papier, las es, sah ihn kurz mit ihren tiefblauen Augen an
und nickte. Dann senkte sie den Kopf und fuhr fort, Zahlen zu addieren.
Damit war die Sache zwischen ihnen besiegelt, sie waren ein
Paar. Sie war sein Schicksal. Sie waren ein Herz und eine Seele, lachten über
die gleichen Witze, wählten im Restaurant die gleichen Menüs. Sie waren wie
siamesische Zwillinge, wurde ihm später klar, miteinander verwachsen und
unzertrennlich. Und das war nicht gut.
Kurz nach dem Abschluss der Schule stiessen sie auf diese
Anzeige. Gesucht wurde ein Paar für den Campingplatz «Paradiso» in Kroatien.
Sie sollten dort für Ordnung sorgen und sich um die Gäste kümmern.
Wer von den beiden die Anzeige zuerst gesehen hatte, wusste
Adam heute nicht mehr. Jedenfalls meldete sich Eva und sie bekamen den
Zuschlag. Wegen ihres Aussehens oder ihres Charmes? Was soll‘s?, dachte Adam.
Am Morgen ging Eva zum Vorstellungsgespräch, im engen, beigefarbenen
Deux-Pieces, das ihre langen Beine betonte.
Als sie zurückkam, küsste sie Adam überglücklich auf den
Mund. Sie habe den alten Besitzer des Campingplatzes um den Finger gewickelt,
erzählte sie und lachte laut mit ihrem vollen, sinnlichen Mund. Ihre Lippen
suchten wieder die seinen und sie verbrachten den Nachmittag zusammen im Bett.
Am nächsten Tag packten sie die Koffer und machten sich auf den Weg nach
Kroatien.
Das «Paradiso» lag direkt am Meer. Der Sandstrand erstreckte
sich bis zum Horizont, unterbrochen von rauen Klippen und Felsen, die sich zu
bizarren Formationen auftürmten. Die Holzhütten, in denen die Gäste wohnten,
waren über den ganzen bewaldeten Hügel verstreut. Sie waren mit Schilf gedeckt,
ihr dunkles Holz roch nach Harz und Teer. Überhaupt war der Geruch in der Luft
himmlisch. Wilder Lavendel, Rosmarin und der herbe Duft der Kiefern bildeten
die würzige Kopfnote. Thymian, Salbei und Minze verdichteten sich zur süssen
Herznote. Tagsüber, wenn die Hitze über dem Hügel flimmerte, zirpten die
Grillen. Abends, wenn der kühle Wind von der Küste heraufblies, wurde es still
im «Paradiso», so still und andächtig wie in alten Kirchen, in denen es nach
Moder und Weihrauch riecht.
Der alte Besitzer hatte den beiden die ganze Verantwortung
für den Ort übertragen.
Eva kümmerte sich um den Kiosk, und er, Adam, um die
Instandhaltung der Anlage. Mit seinem kleinen Wagen fuhr er morgens über den
Platz und sammelte den Müll ein. Dann reinigte er die sanitären Anlagen mit
einem langen Schlauch, den er hinter sich her zog.
Einmal in der Woche kam ein Lastwagen, um die Müllsäcke und
die Lebensmittel abzuholen. Michael, der Fahrer, lehnte sich zu Eva an den
Tresen. Sein Blick schweifte über die Landschaft, während Eva ihm die
Bierflasche öffnete. «So schön wie ihr möchte ich es auch haben», murmelte er,
trank sein Bier in grossen Schlucken, nickte kurz und ging.
Am Nachmittag lagen Eva und er im Sand am Strand, immer
öfter im FKK-Bereich. Wenn die Saison zu Ende war, blieben sie auf dem Platz.
Michael kam jetzt nur am Anfang des Monats. Die beiden genossen die Einsamkeit
und die Freiheit, den ganzen Tag konnten sie tun, was sie wollten. Niemand
störte sie. Tagelang durchstreiften sie die Landschaft, die jetzt im Herbst in
allen Farben leuchtete.
***
«Träumst du?» Eva hatte sich über Adam gebeugt und kitzelte
ihn an der Nase.
Adam richtete sich im Sand auf und sah sie an.
«Bist du eigentlich glücklich mit deinem Leben?», wollte sie
wissen.
Das war wieder eine dieser Fragen, mit denen Eva ihn nervte.
Was sollte er antworten? Jedes Ja und Nein führte zu einer langen Diskussion.
Also murmelte Adam: «Ja und nein».
«Was denn? Beides geht nicht», hörte er und schloss langsam
die Augen.
***
Als der Krieg in den Nachbarländern ausbrach, blieben die
Gäste weg. Eva und er waren nun den ganzen Sommer über allein. Die Tage zogen
sich in die Länge, es gab kein Morgen und kein Gestern, nur das bleierne Heute.
Adam und Eva verloren jedes Zeitgefühl, ob Montag oder Samstag, was spielte das
noch für eine Rolle? Sie hatten alles, was sie brauchten, sie waren die Herren
des Olivenhains und des Strandes. Sie liefen den ganzen Tag nackt herum, lagen
im Sand oder im Schatten der Pinien, lachten und scherzten, aber allmählich
ging ihnen der Gesprächsstoff aus. So schwiegen sie stundenlang.
«Eigentlich sind wir die glücklichsten Menschen auf der
Welt», sagte Adam jetzt immer öfter. Und Eva stimmte ihm zu.
Adam erinnerte sich gut an den Tag, an dem sich alles
änderte. Sie sassen im Schatten der mächtigen Korkeiche, die hier schon seit
der Türkenherrschaft stand, wie Adam vermutete. Der Anfang vom Ende begann mit
einer harmlosen Frage.
«Was ist dein Lebensziel?», wollte Eva wissen.
Es war nicht die Frage, die ihn aufhorchen ließ, sondern ihr
Ton. Als erwarte sie etwas von ihm, etwas anderes, etwas Besonderes.
«Ich weiß nicht», antwortete er knapp. «Einfach so.»
Eva sah ihn von der Seite an. «Einfach so weiter?»
Am nächsten Tag ging die Fragerei weiter. Wann, glaubst du,
ist der Sommer zu Ende? Wohin möchtest du reisen? Glaubst du, dass der Besitzer
des Campingplatzes noch lebt?
Ihm stellten sich die Nackenhaare auf und er spürte ein
leichtes Surren im Magen, wie schon seit Jahren nicht mehr. Er horchte auf, Eva
schien sich zu verändern. Sie war nicht mehr dieselbe. Nur der Grund war ihm
ein Rätsel.
In der nächsten Nacht spürte er, wie Eva sich über ihn
beugte, den Atem anhielt und lauschte, ob er schlief. Dann stand sie leise auf
und verschwand im Gebüsch. Adam erhob sich rasch und folgte ihr ins Unterholz.
Und dann sah er sie unter der mächtigen Eiche sitzen. Das
silberne Licht des Mondes fiel auf die Lichtung und liess ihre Locken glänzen.
Sie starrte gebannt nach unten, in der Hand hielt sie ein Handy, ihre Finger
tippten auf dem Bildschirm.
Sie war so vertieft, dass sie nicht hörte, wie sich Adam
näherte und ihr über die Schulter sah.
«Aha!»
Eva zuckte zusammen, als hätte der Gehörnte sie persönlich
überrascht.
«Warum erschreckst du mich so?», fuhr sie ihn wütend an.
«Was soll das? Eine der Gäste hat ihr Handy liegen lassen, mitsamt dem Stecker.
Ich hätte es dir noch gezeigt.»
Das tat sie dann auch: Von nun an sassen die beiden
stundenlang zusammen und starrten auf das Display des Handys. Während die Natur
in den schönsten Herbstfarben erstrahlte und die ersten Herbststürme das Meer
aufpeitschten, würdigten Adam und Eva einander keines Blickes, sondern starrten
auf den Bildschirm.
So lernten sie die Welt neu kennen. Sie erfuhren, wie der
neue Präsident der Vereinigten Staaten hiess, samt Hund im Weissen Haus, dass
der Nahe Osten in Aufruhr war und man weisse Sneakers trug, dass in Japan ein
Atomkraftwerk explodierte, und welche Hoheiten und Stars heirateten Und je
länger die beiden den Schlagzeilen folgten, desto mehr beschlich sie das dumpfe
Gefühl, etwas im Leben zu verpassen.
«Warum fahre ich nicht einen dieser bulligen Geländewagen»,
fragte sich Adam. Warum trug er keinen Anzug von Versace? Und warum badete er
im Meer, während andere Cocktails an ihrem Pool schlürften?
«Ja, warum eigentlich?», stimmte Eva ihm zu.
Und Eva schämte sich für ihre sonnengebräunten Füsse, ohne
rot lackierte Nägel machten diese keine Falle, wie ihr das Handy vorhielt. Ihr
sonnengebleichtes Haar brauchte dringend eine Spülung. Und wo sollte sie die
Gäste empfangen? Und was kochen ohne Steamer und Mikrowelle? Und eine Frau
sollte Karriere machen, hatte sie in ihrem Handy gelesen.
Als sie an all das dachte, seufzte sie tief.
Adam und Eva waren sich einig, so konnte es nicht
weitergehen. Eva flocht sich aus Bananenblättern einen Bikini und einen Rock,
er bastelte sich Shorts und einen breitkrempigen Hut. So ausgestattet
stolzierten sie Hand in Hand wie frisch Verliebte durch das «Paradiso».
Doch mit der Kleidung war es nicht getan. Ein Haus musste
her, mit Carport und breiter Auffahrt. Die beiden rodeten das Unterholz und
fällten Bäume. Die Arbeit war anstrengend, aber Adam merkte, wie Eva ihn
anstrahlte, wenn sie sich die verschwitzten Locken hinter die Ohren strich. Am
Abend fielen sie todmüde in ihr neu gezimmerte Bett, Adam legte zärtlich seine
Hand auf ihren Bauch, und sie griff danach. Dann schliefen sie glücklich ein.
Es geschah kurz vor Weihnachten. Adam und Eva waren gerade
daran, die mächtige Eiche zu Kleinholz zu hacken, als eine dunkle Limousine
vorfuhr. Sie hielt an, Michael stieg aus, die dunkle Chauffeuruniform verlieh
ihm eine gewisse Eleganz. Er ging um den Wagen herum und öffnete die hintere
Türe.
Mühsam kletterte der alte Besitzer des Campingplatzes aus
der Limousine. Seine Hände umklammerten die Wagentür, während er sich
schwerfällig aufrichtete. Dann blickte sich der Alte um. Je mehr er sah, desto
röter lief sein Gesicht an. Der weisse Bart begann zu zittern, erst leicht,
dann heftiger. Zuletzt zitterte sein ganzer Körper. Er kam drohend auf Adam und
Eva zu, stocherte mit seinem Stock wild in der Luft und murmelte laut vor sich
hin. Zuerst verstanden Adam und Eva ihn nicht, doch dann hörten sie Wortfetzen
wie «verantwortungslos, unfähig und hinterlistig».
Adam ging auf ihn zu und wollte den alten Herrn beruhigen.
Er solle sich doch erst einmal hinsetzen, dann könne man über alles in Ruhe
reden.
Der Alte wollte sich weder setzen noch beruhigen, er
schimpfte und fluchte unverdrossen weiter.
Er solle die Sache doch positiv sehen, wandte Adam ein. Man
müsse mit der Zeit gehen, die Neuerungen seien notwendig, der Campingplatz
müsse mit der Entwicklung Schritt halten, erklärte Adam in sachlichem Ton.
Sonst kämen die Gäste nicht mehr.
«Ausserdem», fügte Adam bedeutungsvoll hinzu, «besteht ein
enormes Wachstumspotenzial, doch dazu müsste man die nötigen Schritte
einleiten.»
Adam kam nicht mehr dazu, ihm die Gewinnsteigerung und den
sicheren Profit vorzurechnen, denn jetzt brüllte der Alte, sie sollten das
Gelände verlassen, aber sofort.
«Das können Sie doch nicht machen», mischte sich Eva ein und
sah den Besitzer mit grossen Augen treuherzig an. Sie hätten so viel Herzblut
in dieses Projekt gesteckt und Tag und Nacht geschuftet.
Der Alte blieb stur.
Tränen schossen Eva in die Augen. Sie hätten sich doch immer
so gut verstanden, schluchzte sie jetzt. Es sei doch etwas ganz Besonderes
zwischen ihnen gewesen. «Und überhaupt», weinte sie, «wo sollen wir denn jetzt
hin, so im Winter und kurz vor Weihnachten?» Sie schnaubte verzweifelt und
rümpfte die Nase.
Alle Erklärungen und Tränen halfen nichts. Der Alte zeigte
kein Erbarmen, sondern warf ihr einen zornigen Blick zu.
Michael forderte Adam und Eva auf zu gehen. Als Adam sich
nicht rührte, packte er ihn an der Schulter und schob ihn vor sich her. Kaum
waren Adam und Eva draussen, schloss er das schwere Tor.
«Altes Kapitalistenschwein!», brüllte Adam,
«Halsabschneider!». Das würden sie sich nicht gefallen lassen, plusterte er
sich auf. Er wusste, dass sie keine Chance hatten, aber er wollte Eva zeigen,
dass man mit einem Adam nicht so umspringen konnte.
So kam es, dass Adam und Eva wieder in ihrer alten Heimat
lebten. Sie bezogen eine kleine Dreizimmerwohnung. Adam arbeitete auf dem Bau.
Er zog unzählige Mauern hoch, er dachte im Schweisse seines Angesichts immer
seltener ans «Paradiso». Adam und Eva bekamen zwei Kinder. Eva blieb die erste
Zeit zu Hause, dann trat sie eine Stelle in einem Bahnhofskiosk an. Zwischen
all den Zeitungen, Illustrierten und Süssigkeiten fühlte sie sich wohl. Oft
blieb Zeit für ein Schwätzchen mit der Kundschaft.
Nur manchmal, wenn sie allein war, überkam Eva die Sehnsucht
nach dem «Paradiso». Dann nahm sie eines der Gartenmagazine aus dem Regal,
blätterte darin und betrachtete die prächtigen Staudenbeete und Gartenanlagen.
Sie schloss die Augen und roch den Duft von Rosmarin, Lavendel und wildem
Thymian. Und wenn sie die Augen noch länger geschlossen hielt, hörte sie das
Meer rauschen.
***
Eva hatte ihren Kopf leicht an seine Schulter gelehnt, ihre
Hand strich zärtlich über seine Schenkel.
Eva richtete sich auf und zog ihn hoch.
«Komm lass uns etwas Trinken und anstossen. Schliesslich
hast du morgen Geburtstag.»
«So ist das Leben», dachte sich Adam. «Man fliegt aus einem
Paradies und landet im nächsten. Man muss es nur erkennen.»