Höhen und Tiefen des Polizeialltags

Seelsorge

Wenn Einsätze belasten oder der Alltag zu viel wird, ist Kerstin Willems zur Stelle. Die Theologin begleitet Polizisten mit offenem Ohr und Empathie – auch Rituale bietet sie an.

Glas, Beton, klare Linien: Das neue, 2022 eröffnete Polizei- und Justizzentrum Zürich (PJZ) wirkt wie eine eigene, hochmoderne Welt.
Hier, wo Abteilungen der Zürcher Kantonspolizei, der Staatsanwaltschaft sowie des Justizvollzugs und auch die Zürcher Polizeischule unter einem Dach arbeiten, begegnen die Leute Kerstin Willems mit einem freundlichen Nicken und einem schnellen «Hallo, wie gehts?».
Die Seelsorgerin gehört dazu. Sie ist Teil des ökumenischen Teams, das die Polizei- und Rettungskräfte in Zürich nun seit einem Vierteljahrhundert begleitet.
An einem Montagnachmittag im April herrscht beim PJZ reger Betrieb. Auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang läuft gerade eine Einsatzübung mit einem nachgestellten Verkehrsunfall, während in den Räumlichkeiten schriftliche Prüfungen für die angehenden Polizistinnen und Polizisten stattfinden.
Willems begegnet ihnen in der Ausbildung: Sie unterrichtet Berufsethik, spricht mit den Aspiranten über moralische Dilemmata im Polizeialltag. Wie geht man ohne Vorurteile auf Menschen zu? Wann ist es angebracht, das Gesetz konsequent durchzusetzen, und wann braucht es ein Auge für das Menschliche? 

Ort zum Innehalten

Routiniert führt sie durch das Labyrinth des PJZ, vorbei an Schulungsräumen und Sicherheitsschleusen und hinein in eine andere Welt: Der «Raum der Stille» präsentiert sich schlicht, mit hellem Holz, ohne Ablenkung. «Hier kommen manche her, wenn der Druck zu gross wird.» Es sei ein Ort zum Innehalten.
Die 51-jährige gebürtige Deutsche erzählt von ihrem Werdegang. Ihr Grossvater war Polizist, ebenso drei ihrer Onkel. Eine Affinität zur Polizeiarbeit brachte sie also mit, als sie sich nach dem Theologiestudium auf die Stelle bewarb. Seit zehn Jahren vertritt sie die katholische Seite im Seelsorge-Tandem.
Neben dem Unterricht sind es vor allem Gespräche, die Willems’ Alltag prägen. Sie finden auf Wunsch statt, sind vertraulich und ganz ohne Aktennotiz. «Früher hiess es oft: einen Schnaps trinken und drüber schlafen. Heute suchen viele gezielt das Gespräch.» Willems beobachtet, dass die Schwellenängste, sich Hilfe zu holen, deutlich gesunken sind. Das Thema psychische Gesundheit ist in der Polizei angekommen und mit ihm die Seelsorge als unabhängige Anlaufstelle.
Was Polizistinnen und Polizisten erleben, lässt sich häufig schwer abschütteln. Gewalt, Tod, Dramen. Ein Mann, der seine Frau tötete, das kleine Kind weinend in der Wohnung. Ein Toter bei einem Raserdelikt. Solche Szenen bleiben haften. Willems war auch schon an der Front dabei. Besonders tief bewegt hat sie ein Piketteinsatz im Rahmen der Notfallseelsorge, mit der sie eng zusammenarbeitet: Der alleinerziehende Vater einer 15-Jährigen war plötzlich zu Hause verstorben. Das Mädchen war vor Ort. «Sie wollte genau wissen, was jetzt mit ihrem Vater geschieht. Sie war so klar, so offen.» Später begleiteten Willems und ihr Team die junge Frau weiter. Sie kam bei den Eltern einer Freundin unter, konnte ihre Schule abschliessen. «Solche Lichtblicke geben mir Hoffnung und neue Kraft.»

25 Jahre im Einsatz

Die Seelsorge für Polizei und Rettungskräfte (SPuR) wurde vor 25 Jahren vom reformierten Pfarrer Patrice de Mestral ins Leben gerufen. Sie gehört zur Spezialseelsorge und um­fasst derzeit 130 Stellenprozente. Am 1. Juli übernimmt die junge Pfarrerin Susanne Klöti die Rettungsseelsorge von Stefan Keilwerth, der als Gesamtleiter Notfallseelsorge und als Rettungsseelsorger zurückgetreten ist. 

Belastender Alltag

Längst nicht immer geht es um Extremsituationen. Auch der normale Polizeialltag kann sehr belastend sein, zum Beispiel aufgrund von Respektlosigkeiten, abwertenden Bemerkungen oder fehlender Wertschätzung für geleistete Arbeit. Was viele zusätzlich umtreibt: Wie hält man im Schichtbetrieb die Balance zwischen Beruf und Freizeit?
Auch die stromgeladene Flughafenpolizei besucht Willems häufig, gerade heute Morgen war sie dort. Ein Kollege war mit einem älteren Ehepaar beschäftigt, beide im Rollstuhl, das sein Visum leicht überzogen hatte. Was tun? Willems entscheidet nicht mit, sie stellt jedoch Fragen und weitet den Blick. Ihr Rat: «Manchmal hilft es, den Menschen zu sehen – nicht nur das Vergehen.»
In Abgrenzung zu den psychologischen Angeboten hat die Seelsorge eine eigene Rolle. Sie organisiert mit den Angehörigen Beerdigungen, Gedenkanlässe oder Rituale, wenn jemand im Dienst verstirbt. Und wie gelingt es ihr, selber abzuschalten? Am liebsten in der freien Natur, bei Spaziergängen mit ihrem Hund. «Da komme ich auf andere Gedanken.»