Antisemitismus hat in der Schweiz stark zugenommen

Bericht

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Gaza-Krieg erleben Jüdinnen und Juden in der Schweiz wesentlich mehr Anfeindungen als zuvor. Viele fürchten um ihre Sicherheit. 

Ein versuchter Brandanschlag auf eine Synagoge in Zürich, die Äusserung, Hitler hätte seinen Job beenden sollen, die Beschimpfung eines Schülers als «ScheissJude» – mit derartigen antisemitischen Vorfällen sah sich die jüdische Bevölkerung in der Schweiz im vergangenen Jahr konfrontiert. In Zürich kam ein orthodoxer Jude gar nur knapp mit dem Leben davon, ein islamistisch radikalisierter Jugendlicher hatte ihn mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. Diese Fälle entstammen dem heute veröffentlichten, jährlichen Antisemitismusbericht. 

Die Erhebung zeigt: Der Judenhass in der Schweiz hat im vergangenen Jahr stark zugenommen. 221 antisemitische Vorfälle im realen Leben, darunter 11 Tätlichkeiten, verzeichnet der Bericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und der GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Das entspricht einer Steigerung von rund 42 Prozent im Vergleich zum Jahr 2023. Verglichen zu 2022 beträgt die Zunahme fast 290 Prozent, damals wurden 57 gezählt.

Der Antisemitismus hat in der Schweiz die Strasse erreicht.
SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner

Als Ursache für die Zunahme sehen SIG und GRA die Terroranschläge der radikal-islamischen Hamas im Herbst 2023 und der dadurch ausgelöste Gazakrieg. Sie hätten ab Oktober bis ins Jahr 2024 hinein «eine regelrechte Antisemitismuswelle» ausgelöst, heisst es in einer Medienmitteilung. «Der Antisemitismus hat in der Schweiz die Strasse erreicht», sagte SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner dem Schweizer Radio SRF. Es habe ein Ausmass angenommen, wie man es in etwa aus anderen europäischen Ländern kenne.

Fast die Hälfte der Vorfälle weisen einen Zusammenhang zur politischen Situation im Nahen Osten auf. Die Erhebung unterscheidet unter anderem zwischen Tätlichkeiten, Sachbeschädigungen, Beschimpfungen und antisemitischen Aussagen. Insbesondere letztere nahmen deutlich zu, von 38 im Vorjahr auf 103. Dabei zeige sich das markant anhaltende Narrativ, dass die Schweizer Jüdinnen und Juden für den Krieg, die Handlungen und die Politik Israels verantwortlich seien, heisst es. Dazu gehöre auch die Forderung, dass sich Jüdinnen und Juden für diese Politik rechtfertigen oder davon distanzieren müssten.

Ohne Kippa und Davidstern

Kreutner betonte gegenüber Schweizer Radio SRF, dass Äusserungen zum Nahen Osten im Bericht nicht leichtfertig als antisemitisch eingestuft würden. Es müsse möglich sein, Palästinenserinnen und Palästinensern Solidarität auszusprechen. «Das ist Meinungsfreiheit.» Auch Kritik an Israels Regierung und deren Kriegsführung sei zulässig. Die Grenze sieht Kreutner überschritten, wenn zur Vernichtung Israels aufgerufen werde oder Israel auf eine Stufe mit Nazideutschland gesetzt werde.

Die wachsende anti-jüdische Stimmung im Land hat Konsequenzen für das Sicherheitsempfinden der Jüdinnen und Juden. Dieses hat sich deutlich verschlechtert, wie eine Ende 2024 durchgeführte Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW unter der jüdischen Bevölkerung in der Schweiz zeigt. So verstecken viele jüdische Mitbürger religiöse Symbole wie eine Davidstern-Kette oder die Kippa. Sie vermeiden es, in der Schule, am Arbeitsplatz und an Universitäten, offen ihre Identität preiszugeben. Als jüdisch erkannt zu werden, berge heute für viele ein zu hohes Risiko, schreibt der SIG in seiner Medienmitteilung. Die Angespanntheit und erhöhte Aufmerksamkeit rund um jüdische Einrichtungen seien durchwegs spürbar. 

Auch Kommentarspalten von Online-Zeitungen betroffen

Der Dachverband fordert in dem Zusammengang von Gesellschaft und Politik mehr Engagement für die Sicherheit jüdischen Lebens im Land. Die Sicherheit jüdischer Einrichtungen müsse langfristig durch polizeiliche Massnahmen und die aktive Unterstützung der Sicherheitsmassnahmen vor Ort gewährleistet werden. Auch macht sich der Verband erneut stark für eine wirksame rechtliche Handhabe gegen Online-Hassrede. 

Denn auch im Netz grassiert der Antisemitismus. Im Berichtsjahr wurden 1596 Online-Vorfälle registriert, der Grossteil in der Messenger-App Telegram. 300 Fälle betrafen Kommentarspalten von insgesamt 16 Schweizer Online-Zeitungen. Im Vergleich zu vorherigen Jahren sind die Vorfälle im Online wesentlich höher. Allerdings können die Zahlen mit den Vorjahren nicht direkt verglichen werden, weil erstmals eine spezielle Suchsoftware zum Einsatz kam.