Es ist hell unter der Glaskuppel in der Textilmanufaktur von Alnour, arabisch: das Licht. Sonnenkollektoren lassen die Apparaturen mitten in Marrakeschs Medina brummen. Aber das Licht kommt nicht nur von oben. Es kommt auch von den vierzig Kunsthandwerkerinnen, die auf zwei Ebenen arbeiten in diesem Stadthaus, das einem Riad mit begrüntem Innenhof gleicht. Mit dem Unterschied, dass hier keine Orangenbäume wachsen. Es plätschert kein Brunnenwasser. Über dem Jasmin fliegen keine Vögel auf. Es ist nicht diese Art Garten. Hier lebt die Idee des Paradiesgartens und die Sehnsucht danach als Möglichkeit unter Menschen.
Neubau geplant
Seit 2006 blühen und sticken Frauen an der Rue el Ksour 57. Traditionelle marokkanische Muster pflegend, neue entwickelnd. Manche sitzen im Rollstuhl, andere sind gehörlos, haben verwachsene Hände, denen sie zarte, farbige Ornamente abringen. Freundliche Blicke spiegeln Zufriedenheit. Diese Frauen sind, zusammen mit der Gründerin und CEO des Unternehmens, Patricia Kahane, stolz auf die veredelten Kleidungsstücke, auf Heimtextilien und Accessoires in Baumwolle, Leinen, Wolle, Seide, Paschmina. Sie sind stolz auf ihre Arbeit, auf ihr Können. Sie sind stolz, dass sie einen fairen Lohn bekommen, Krankenversicherung und Aussicht auf eine Altersrente. Sie sind stolz, Teil einer innovativen und professionellen Institution zu sein, die bald eine Handweberei integrieren wird und eine neue Schneiderei baut. Die jetzige, die auch externe und internationale Kundschaft bedient, läuft gut. Aber sie ist zu klein, um das Defizit des Stickateliers zu decken. Die freiwilligen Sozialleistungen sowie Transport, Mahlzeiten, Kinderbetreuung, Ausbildung, elektrische Rollstühle und moderne Prothesen treiben die Kosten in die Höhe. Über den Verkauf der Produkte ist kein Ausgleich zu schaffen. Der Preis für ein Babykleidchen oder eine Bluse müsste explodieren. Deshalb entsteht ein zeitgenössisches, energieneutrales Gebäude ausserhalb der Altstadt für hundert Schneiderinnen und Schneider. Ende Jahr soll es bezugsbereit sein.
Markt im sulèr
Ich schaue umher. Die Gesichter der Frauen glänzen. Ihre Namen sind im Ladenraum an die Wand gemalt. In arabischer und lateinischer Schrift. Hanane, Nezha, Naima, Yamna, Hakima, Latifa, Khaoula, Tamou und Amina. Ich denke an das biblische Versprechen. All unsere Namen sind im Himmel aufgeschrieben. Als luftiges Gedicht über der Welt. Wie viele Stunden habe ich mit dem geliebten Engadiner Kreuzstich verbracht! Die Verwandtschaft von Sticken auf Stoff mit Schreiben und Papier empfand ich früh. Doch, klar, Stickerei schlägt Schrift, wie die Musik alle Sprache. In Ornamentik und Klang liegt ein besonderes Geheimnis. Es führt zum Tiefgründigen und in die Höhe. Es bringt Menschen aus verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen zusammen. Hier in Alnour die muslimische, christliche und jüdische, der die Gründerin dieses einzigartigen Ortes angehört.
Sie stammt aus Wien. 1995 hat sie sich mit dieser Stadt verbunden. Weil ihre damals fünfjährige Tochter Lili, deren Sehkraft bei nur zehn Prozent liegt, hier gleich glücklich war. Also kam die Familie gern wieder und kaufte ein Haus. Wie an meinem Wohnort, in Celerina, wo Patricia Kahane im Sommer meine Nachbarin ist. Im August lädt sie jeweils in den breiten Korridor, den sulèr, des Engadiner Hauses zum Alnour Market. Von ihrer Schwester und vielen anderen unterstützt. Dieses Jahr war besonders viel los. Die Schwestern rannten, berieten, erklärten. Und erzählten von Alnour. Sie luden mich ein. Damit legten sie mir eine Geschichte in die Hand, die für mich wie ein begehbarer Schrank funktionierte. Ich trat im sulèr in sie ein und kam im Stickatelier wieder raus. Mann und Sohn waren dabei und der Fotograf aus Scuol. So viel Engadin in Marrakesch. So viel Marrakesch in Graubünden. Auch in Form von Partnerschaften, wie «Bündnertuch» in St. Moritz.
Hoffen auf ein Wiedersehen
Ich gehe von der Manufaktur in den Laden. Neben der Kasse erkenne ich ein besticktes Challah-Tuch. Darauf prangt auf Hebräisch «Zu Ehren des heiligen Schabbat». Es verhüllt zu Beginn des Schabbat- oder Jom-Tow-Essens die geflochtenen Brote auf dem gedeckten Tisch. Über dem Tuch, das noch nicht in Gebrauch ist, ahne ich den Segen, der vor dem Essen gesprochen wird. Ich zücke mein Notizheft und formuliere ein paar Gedanken. Dabei kommen mir die Text-Girlanden in den Sinn, die die Kacheln der Koranschule zieren. Sie feiern die Schrift, die arabische Sprache, ihre Bedeutung im Islam, dem die Stickerinnen angehören. Fast alle bedecken ihr Haupt. Ich, die Protestantin, will es ihnen gleichtun. Aus Respekt und auch, um mir ein schönes Tuch zu kaufen. Amina sagt, nimm das! Ich zögere nicht. Sie umarmt mich. Ich komme wieder, Amina, sage ich. Sie sagt, inschallah.
Video: reformiert.info/alnour