Herr Herzog, das Projekt Autobahnkirche an der A13 in Graubünden ist Ihnen ein Herzensanliegen. Inwiefern?
Jacques Herzog: Der Entwurf für die Autobahnkapelle in Andeer ist das ungewöhnlichste Projekt, das ich bisher machen konnte. Der Grund: Es entsteht dort ein Ort für alle Menschen, auch wenn sie nicht im herkömmlichen Sinn religiös sind oder es nicht zu sein glauben. Viele sind bereit, sich zu öffnen für die Wahrnehmung ihrer selbst, der Natur, für die Wahrnehmung ihres Denkens und fragen sich: Wer bin ich? Was mache ich? Wo gehe ich hin? Für all diese Fragen, die im tiefsten Innern eigentlich religiös sind, einen Raum zu entwickeln, kann nicht mit architektonischen Standardüberlegungen funktionieren. Dies herauszufinden, hat mich unglaublich fasziniert und bewegt mich daher bis zum letzten Detail der Kapelle.
Die Autobahnkirche haben Sie entworfen angesichts einer Welt, in der der Alltag für viele Menschen härter wird. Soll die Autobahnkirche dem Bedürfnis nach Geborgenheit entgegenkommen?
Ich denke, ja, Geborgenheit im Sinn einer tiefen spirituellen Geborgenheit. Wenn du am Ende des Tages die Nachrichten hörst oder schaust, deprimiert das den Menschen mittlerweile so sehr, dass jeder das Bedürfnis empfindet, diese alltäglich auf dich eindringenden schlechten Nachrichten hinter sich zu lassen. Diese Autobahnkapelle in Andeer wird ein Ort sein, der anders ist. Ein Ort, wo du hingehen kannst, um dich eben auch anders zu sehen. Das heisst, du kannst dich an einem solchen Ort öffnen. Viele, die sich selbst nicht als religiös betrachten, besuchen auf ihren Reisen immer wieder Kirchen, die sie als Orte wahrnehmen, wo sie endlich auch anders sehen und denken können. Ich denke, dass dies trotz des gegenwärtigen Trends schwindender Kirchenmitgliederzahlen immer noch ein wachsendes Bedürfnis ist.
Inwiefern spiegelt sich Ihre Spiritualität in Ihrem Entwurf der Autobahnkirche wider?
Sehr stark. Die Kapelle ist für mich wie eine konzentrierte Landschaft. Ich finde es interessant, mich unter einen Baum zu setzen, auf einen Felsvorsprung oder einen Ort, an dem ich verweilen kann, den Himmel, einen Ast, den Wuchs eines Baumstammes betrachten oder Gämsen zuschauen, auf den Wind horchen oder das Licht und die Veränderungen der Natur wahrnehmen. Diese Wahrnehmungsebenen sind das Interessanteste am Leben. Denn dabei nimmst du wahr, dass sich alles bewegt, die Zeit vergeht und jeder Moment anders ist. Wir kennen solche Gedanken und Empfindungen.
Welche Erfahrungen wollen Sie den Besucherinnen und Besuchern mit der Autobahnkapelle eröffnen?
Es geht in die Richtung, den Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit zu eröffnen, sich Räume jenseits der Endlichkeit vorstellen zu können. Letztlich aber bestimmst du als Mensch, für was du dich öffnen möchtest. Dieses Sich-Öffnen soll durch die Architektur auch stimuliert werden. So, wie ein Kunstwerk oder die Natur in uns Wahrnehmungen wachrufen kann. Dafür brauchst du aber eine gewisse Bereitschaft, dich wie eine Antenne auf Empfang zu stellen. Das ist, denke ich, ein erster Schritt, aus der Lethargie herauszutreten, anstatt sich wieder und wieder mit Informationen zuzudecken, die einen im Grunde blind machen.
Architektur also als Katalysator, als Instrument für dieses Sich-Öffnen?
Ja, genau so. Ich finde es wichtig, dass man sich hinsetzt und einfach nur schaut, hinhört, riecht und so quasi die eigenen Sinne schärft. Das steht im Kontrast zu den digitalen Medien, die uns mehr überschwemmen als informieren. Wichtig ist mir, dass wir uns für in uns vorhandene, aber verdeckte Qualitäten und Fähigkeiten wieder stärker öffnen.
Gibt es weitere Aspekte, die das Projekt Autobahnkirche für Sie speziell machen?
Das Spezielle ist zudem der Ort. Ich bin überzeugt, dass in der Schweiz auch an vielen abgelegenen Orten Attraktivität entstehen soll. Das wird auch jüngere Generationen anziehen, weil sie sehen, dass da mehr ist als nur Leere. Für mich ist wichtig, dass die Schweiz an unterschiedlichen Orten Perlen und Juwelen von Landschaft und Kultur, von Kunst und Architektur, von Menschen und Ortschaften bereithält. Das Dorf Andeer macht dabei grosse Anstrengungen. Bäckerei, Metzgerei, Käserei oder die Gastronomie sorgen für Lebensqualität. Das zieht Menschen an, die bereit sind, zu investieren. Diese kleine Autobahnkapelle wird diesen Ort, dieses Bemühen stärken.