Ob mit einem Orthopäden, einem Bibelexperten, einem Theologen oder einer Tischnachbarin: «Alle werden sie das biblische Leitwort ‹Du stellst meine Füsse auf weiten Raum› in seinen vielfältigen Facetten ausloten», sagt Jens Köhre. Der Pfarrer, der mit dem Kirchgemeindeteam die ersten Bibel-Genuss-Tage in Flims organisiert, blickt dem letzten November-Wochenende in freudiger Erwartung entgegen.
Orthopädie und Theologie
«Die Bibel wird erlebbar in Begegnungen und Gesprächen, in Vorträgen verknüpft mit feinen kulinarischen Genüssen, in Gottesdiensten und Konzerten, dazu im wohlig angenehmen Ambiente der Casa Caumasee», umreisst Köhre das weite Sinnen-Feld des Leitworts, das den Psalmen des Alten Testaments entnommen ist (Ps 31,9). Dazu gehöre zum Beispiel auch die orthopädische Frage, was unsere Füsse, die uns ein Leben lang tragen, eigentlich sind. Fachkundige Erläuterungen dazu werde ein auf Orthopädie spezialisierter Mediziner beisteuern, so der Flimser Pfarrer. Oder was unterscheidet einen Kirchenraum von einem normalen Versammlungssaal?
Käse und Bibel
Eröffnet werden die Bibel-Genuss-Tage am Donnerstagabend, 27. November, in der reformierten Kirche in Flims mit einem Gottesdienst. Dabei wird Christoph Sigrist, früher Pfarrer am Grossmünster in Zürich und heute tätig als Diakoniewissenschaftler an der Universität Zürich, Impulse geben und dabei den Blick öffnen für die politische Dimension des Leitworts «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum». «Ich finde es lustvoll, den trockenen Bibeltext mit einem schmackhaften Flimser Geissenkäse zu verbinden», sagt Sigrist genüsslich und ergänzt appetitanregend: «Du musst einen Bibeltext fressen, und», so habe er von Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber gelernt, «die gärenden Säfte, die Saftwurzeln sind deine Energie als Prediger.»
Die Goldene Regel
Gefragt, was die Auslegeordnung für ihn heisst bezüglich des Leitwortes, sagt Sigrist: «Ein befreiendes Verständnis dieses Bibelverses schafft sich Raum und eröffnet einen weiten Horizont.» In einem solchen weiten Horizont «werden die Verse der Bibel Geländer in dem irrsinnig grossen Raum der Freiheit, damit du dich nicht verlierst». Zu diesen biblischen Geländern gehören gemäss Sigrist die Zehn Gebote, die Seligpreisungen und die Goldene Regel, die besagt, dass alle Mitmenschen so zu behandeln seien, wie man auch selbst behandelt werden möchte.
Raum zum Denken
Für Christoph Sigrist ist klar: «Wenn man schon weiss, dass man Bibelverse aus den Buchdeckeln herausnehmen und in das individuelle und gesellschaftliche Leben einer modernen pluralen Gesellschaft integrieren kann, sind wir heute gedrängt zu einer reformierten Übung im Umgang mit der Bibel.» Konkret heisse dies, so Sigrist, «die Bibel in einen weiten Resonanzraum hineinzustellen». Nur so komme die Klangebene ins Spiel, die drei Seiten zum Klingen bringen müsse: «Die Bibel als Bibeltext, die Bibel im Gebrauch im Gottesdienst und die Bibel als Wort von Gott». Blieben diese Unterscheidungen aus, werde das Bibelverständnis schnell fundamentalistisch, warnt der Theologe.
Perspektiven wechseln
Eine weitere Konsequenz dieses weiten Bibelverständnisses: «Wenn die Goldene Regel den Freiheitsraum so weit öffnet, kann ich sogar sagen, dass die Bibel heute nur noch im Gespräch mit den anderen Religionen zu verstehen ist.» Und der Flimser Pfarrer Jens Köhre ergänzt schmunzelnd: «Die Bibel-Genuss-Tage und das Leitwort sind ein bisschen so, wie wenn man ein Bonbon lutscht, dessen voller Geschmack erst nach einigem Durchkauen so richtig zur Entfaltung gelangt.» Und noch eins betont Köhre: «Die Bibel-Genuss-Tage sind ein offenes Angebot für alle, die Glaube, Theologie und Religion gemeinsam auf eine zeitgemässe Art entdecken möchten.»
