Als der Islam die Menschen im Westen faszinierte

Kulturgeschichte

Heute begegnen westliche Gesellschaften dem Islam teils mit Misstrauen. Dem war nicht immer so. Die islamische Kultur galt im Westen auch schon als Hort von Feinsinn und Weisheit.

Die Wahrnehmung der Muslime und der islamischen Kultur war im westlichen Kulturkreis nicht immer gleich. Verbreitet ist heute die Vorstellung, der Islam sei grundsätzlich kriegerisch und viele seiner Anhänger hätten mit Demokratie nichts am Hut, dafür umso mehr mit Gewalt.

Dieses negative Bild «des» Islam und «der» Muslime war auch im Zeitalter der Renaissance und des Barocks prägend, genährt von den zwei Belagerungen Wiens 1529 und 1683 durch die Türken und dem in der Bevölkerung präsenten Schlagwort der «Türkengefahr». Im ausgehenden 17. und vor allem dann im 18. und 19. Jahrhundert prägten aber auch positive Stereotype die Wahrnehmung des «Morgenlands» und seiner Bevölkerung. Gern zeichneten und feierten westliche Intellektuelle den muslimischen Kulturkreis als Hort von Poesie, Mystik, Feinsinn, Philosophie und Weisheit.

So trat der deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe in seinem 1814 entstandenen Gedichtzyklus «West-östlicher Divan» in einen begeisterten Dialog mit der islamischen Kultur, und der Philosoph Friedrich Nietzsche bezeichnete den persischen Poeten Hafis als einen der «Feinsten und Hellsten». 

Im 19. Jahrhundert gab es im Westen auch positive Stereotype über den Orient.

Besonders eindrücklich zeigt sich das positive Islam-Bild in der Novelle «Der Heilige», die der Zürcher Dichter Conrad Ferdinand Meyer 1879 verfasste. Protagonist der Rahmenerzählung ist Hans der Armbruster, der gegen Ende des Jahres 1191 in Zürich zufällig einem Chorherrn begegnet und von diesem zu sich nach Hause eingeladen wird. Der Armbruster soll dem alten Mann endlich einmal von seiner abenteuerlichen Vergangenheit als Leibknecht des englischen Königs Heinrich II. erzählen. Und vor allem auch von seiner persönlichen Bekanntschaft mit Thomas Becket, dem geheimnisvollen Kanzler des Königs, der einen sächsischen Vater und eine arabische Mutter hatte, also zumindest mit einem Bein in der muslimischen Welt stand.

Märchenstunde in luftigen Hallen

Hans der Armbruster nimmt seine Erzählung auf. Dabei wird schnell klar, dass er die arabische Kultur bewundert. Manches erscheint in seinen Schilderungen gerade gegenteilig zu dem, womit sich heutige Menschen im Kontakt mit dem Islam konfrontiert sehen. Sind es in der aktuellen Nachrichtenwelt oft Männer aus dem arabischen Raum, die mit Messerattacken von sich reden machen, sind es bei Meyer die schwäbischen Einheimischen, die in den Trinkstuben «schreien und stechen». Anders als im maurischen, sprich arabischen Granada, wo der Armbruster in seinen Gesellenjahren weilte. Hier ergötzt man sich in den Abendstunden «ohne Wein und Streit» in hohen und luftigen Hallen an den Geschichten eines Märchenerzählers.

In Sachen Rauflust kommt auch der englische Hof mit seinem normannischen Adel schlecht weg. Denn «die Normannen sind kitzlich im Ehrenpunkt wie kein anderer Adel. Gleich fährt das Schwert aus der Scheide, und verloren ist unter ihnen, wer den Stich eines Blickes oder einer Klinge nicht parieren und zurückgeben kann». In auffallendem Kontrast zu diesen aufbrausenden Haudegen steht der fremdländische Kanzler, der zwar auch mutig ist, wenn es sein muss, aber den Kampf mit der Waffe möglichst meidet.

Einmal, während der Erstürmung einer französischen Burg durch königliche Truppen, sah der Armbruster den Kanzler «mit einem wütenden Picarden handgemein werden sehen, totenblass in der Tat und die Zähne aufeinanderbeissend». Es gelang Thomas Becket zwar, den Gegner zu töten, betrachtete danach sein Schwert aber «mit Ekel und Abscheu».

Vom Ritter zum Asketen

Überhaupt erscheint der Kanzler als Lichtgestalt inmitten von rauen normannisch-germanischen Kriegsmännern. Als «vornehm und bleich» wird er geschildert, beschlagen in vielen Künsten, klug, friedliebend und von rascher Auffassungsgabe. 

Und das Drama vom normannischen Engländerkönig und seinem halb arabischen Kanzler nimmt seinen Lauf. Der König fängt eine heimliche Liebschaft mit der Tochter des Kanzlers an, ohne zu wissen, wer sie ist. Die Königin aber lässt die Nebenbuhlerin ermorden. Als die Tragödie offenbar wird, trauert der Kanzler um seine Tochter und wandelt sich vom Ritter zum Asketen. Der König zwingt ihn darauf in das Amt des Erzbischofs von Canterbury.

Kanzler Thomas nimmt seine neue Aufgabe sehr ernst. Er wird zum Seelenhirten, der Jesus konsequenter nachfolgt als jeder andere Kleriker im Königreich. Von Vaterseite her englischer Sachse, setzt er sich für seine unterdrückten Volksgenossen ein. Schliesslich wird er in der Kathedrale ermordet und so zum Märtyrer. König Heinrich hingegen verlässt das Glück.

Nur wenige Jahre nach seinem gewaltsamen Tod wird Thomas Becket beziehungsweise Thomas von Canterbury heiliggesprochen. Und das ist der eigentliche Clou von Meyers Novelle: Ein hoher Beamter und Kleriker, von dem man vermuten kann, dass er zu Lebzeiten ein heimlicher Muslim war, wird posthum als christlicher Heiliger verehrt.