«Stille Nacht», Ramadan, aber keine Bibelstunden

Gesellschaft

Das Bundesgerichtsurteil zur Religion an staatlichen Schulen wirft grundsätzliche Fragen auf. Für Peter Heiniger, Direktor einer einst evangelischen Mädchenschule, ist es richtig.

In der Schweiz entscheiden die Kantone darüber, ob konfessionelle Schulen staatliche Unterstützung erhalten. Die Unterschiede sind erheblich: Während im Kanton Zürich Privatschulen wie das Gymnasium Unterstrass mit evangelischem Leitbild keinerlei finanzielle Mittel vom Staat bekommen und sich ausschliesslich durch Schulgeld und Spenden finanzieren, sieht die Situation in Bern anders aus. Hier erhalten drei evangelische Schulen, darunter die NMS Bern (ehemals Neue Mädchenschule Bern), finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Mitteln.

Peter Heiniger ist seit 2022 Direktor der NMS. Er zeigt sich auf Anfrage wenig überrascht von dem Bundesgerichtsurteil. Vielmehr sieht er darin einen im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen nachvollziehbaren Schritt, der den liberalen und demokratischen Werten unserer pluralistischen Gesellschaft entspricht. Seine Schule habe das Wort «evangelisch» schon vor längerer Zeit bewusst aus dem Namen gestrichen – ein Trend, der sich in der evangelischen Bildungslandschaft zunehmend abzeichnet. Auch in Zürich wurde jüngst aus der Freien Evangelischen Schule die Freie Schule, um ein aktuelles Beispiel zu nennen.

Wegweisendes Urteil aus Lausanne

1996 schloss das Kloster St. Katharina mit der Gemeinde Wil einen Vertrag zur Führung einer Mädchensekundarschule. 2016 übernahm die Stiftung Schule St. Katharina den Schulvertrag, wobei Wil über die Aufnahme von Schülerinnen mit Wohnsitz in der Gemeinde entscheiden durfte. Gegen diesen Beschluss legten zwei Privatpersonen und eine politische Partei Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht St. Gallen wies diese 2022 ab. Am 17. Januar 2025 entschied das Bundesgericht jedoch, dass der Schulbetrieb gegen die konfessionelle Neutralität öffentlicher Schulen verstösst. Das Kathi setze bewusst katholische Akzente, etwa durch Wallfahrten und Gottesdienste, wodurch die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Schülerinnen beeinträchtigt werde. Zudem sei die ausschliessliche Zulassung von Mädchen nicht mit dem Grundsatz der Koedukation vereinbar. Eine monoedukative Ausrichtung in allen Fächern sei verfassungswidrig.

Tradition und Wandel

Die NMS Bern wurde 1851 als Neue Mädchenschule gegründet und war lange eine reine Mädchenschule mit stark evangelischem Profil. Erst 1987, im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen nach der 68er-Bewegung, öffnete sie ihre Tore auch für Jungen – eine Entscheidung, die die Schule grundlegend veränderte. «Die Zulassung von Jungen nach über 100 Jahren war mit einer existenziellen Herausforderung verbunden. Die Schule musste sich sowohl pädagogisch als auch in ihrem Werteverständnis neu orientieren», sagt Heiniger.

Heute ist die NMS eine überkonfessionelle Institution mit evangelisch geprägtem Leitbild. «Wir sind aber keine konfessionelle Schule mehr. Zwar zahlt die reformierte Kirche noch einen symbolischen Beitrag von 10 000 Franken pro Jahr, aber das deckt nicht einmal das Schulgeld für einen Schüler oder eine Schülerin», so Heiniger. Die Schülerschaft sei religiös so vielfältig wie das Lehrerkollegium – von evangelisch bis atheistisch. Auch der Unterricht habe sich gewandelt: Gottesdienste oder religiöse Zeremonien gehören nicht mehr zum Schulalltag. Weihnachtsfeiern etwa seien Gemeinschaftsanlässe, die bewusst so gestaltet werden, dass auch jüdische oder muslimische Schülerinnen und Schüler sich nicht ausgeschlossen fühlen. «Stille Nacht ist als Kulturgut natürlich okay, genauso wie der Ramadan thematisiert wird», erklärt Heiniger. 

Peter Heiniger

Peter Heiniger

Peter Heiniger ist seit bald 40 Jahren im Bildungsbereich tätig – zuerst als Lehrer an verschiedenen Volksschulen im Kanton Bern, später als Gymnasiallehrer und Rektor und schliesslich als Studiengangsleiter an der Pädagogischen Hochschule Thurgau sowie als Weiterbildner und Schulberater im gesamten deutschsprachigen Raum. Seit 2022 ist er Direktor der NMS Bern, die im Zentrum von Bern eine Volksschule, ein Gymnasium, eine Fachmittelschule und ein Pädagogisches Hochschulinstitut führt.»

Mut zur Ungleichbehandlung

Das Bundesgerichtsurteil bezieht sich aber nicht nur auf die religiöse Ausrichtung von Schulen, sondern auch auf die Frage der Geschlechtertrennung. Diese wird im vorliegenden Fall als diskriminierend betrachtet. Mit Blick auf den Einsatz öffentlicher Mittel teilt Heiniger diese Einschätzung: «Wenn der Staat Schulen finanziert, müssen diese für alle offenstehen. Geschlechtertrennung ist problematisch, wenn sie mit öffentlichen Geldern unterstützt wird.» Gleichzeitig betont er, dass es in der Pädagogik auch Raum für spezifische Angebote geben muss. So verweist er auf MINT-Förderprogramme für Mädchen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, die auch an der NMS angeboten werden: «Diese Programme sind sehr erfolgreich. Viele Jungen würden gerne dran teilnehmen», sagt Heiniger.

Generell gelte: Je pluralistischer eine Gesellschaft, desto sensibler müsse abgewogen werden, wo Gleichbehandlung gewährleistet sein müsse – und wo eine differenzierte Behandlung erforderlich sei. Diese Debatte sei besonders im pädagogischen Kontext herausfordernd, da jede Schülerin und jeder Schüler anders sei und damit individuelle Förderung benötige. «Es braucht in der Pädagogik Mut zur Ungleichbehandlung, um individuelle Stärken zu fördern und über Schwächen hinweghelfen zu können», betont Schulleiter Heiniger. Die zentrale Frage laute somit: Soll Inklusion als Zwang verstanden werden, oder dürfen bestimmte Gruppen bewusst Räume für sich haben? Vor diesem Hintergrund sieht er auch Raum für konfessionell geprägte Mädchenschulen, diese müssten sich dann aber anders finanzieren, als über öffentliche Gelder.

Anstoss zur Weiterentwicklung

Heiniger sieht das Urteil aus Lausanne nicht als Bedrohung, sondern als Anstoss zur Weiterentwicklung. «Wir müssen uns weiterhin an gesellschaftliche Veränderungen anpassen, aber das bedeutet nicht, dass wir unsere evangelischen Werte – die auf einer christliche-humanistischen Grundlage basieren – aufgeben», erklärt er.

Gleichzeitig versteht er, dass der Entscheid ein schwerer Schlag für die betroffene Schule ist, da diese noch stark konfessionell geprägt sei. Er betrachtet Klosterschulen als durchaus interessante Relikte –evangelischeEinrichtungen hätten sich landesweit bereits weitgehend säkularisiert. Das Bundesgerichtsurteil rücke eine Entwicklung in den Fokus, die in den letzten Jahrzehnten leise vonstattenging: den Wandel von konfessionellen Schulen zu überkonfessionellen Bildungsinstitutionen.