Gesellschaft 30. Januar 2025, von Heinz Rüegger

Offen für das Unverfügbare

Gastbeitrag

Über das Leben verfügen zu können, bringt die grosse Freiheit, hinterlässt aber einen blinden Fleck: Theologe Heinz Rüegger über die Kunst, sich dem Unkontrollierbaren zu öffnen.

Ein Grundimpuls der modernen westlichen Gesellschaften liegt, wie der Soziologe Hartmut Rosa aufgezeigt hat, darin, sich die Welt verfügbar zu machen, sie kontrollieren zu können. Wir können unser Leben heute weitgehend selber planen und gestalten, können ein Leben ‘führen’. Darin liegt eine grosse Freiheit. Wir können und wollen in hohem Masse über unser Leben selber verfügen. Und das hat in vielen Bereichen sein gutes Recht.

Angesichts solcher Fokussierung auf selbstbestimmtes Planen, Handeln und Entscheiden gerät allerdings leicht eine andere Seite unserer Existenz aus dem Blick, die für das Gelingen des Lebens und insbesondere des Alters von ebenso grosser Bedeutung ist: die Fähigkeit, sich auf Unverfügbares einzulassen und sensibel zu werden für das, was unser Sein ausmacht jenseits eigenen Bestimmens, Verfügens und Handelns.

Offenheit für das Unerwartete

Gefragt ist eine Haltung innerer Offenheit für das Unerwartete, für das, was das Leben einem zuspielt und zumutet. Der Medizinethiker Giovanni Maio gibt zu bedenken, dass es erfülltes Leben nur gibt, «wenn sich im Leben das Unerwartete ergibt, wenn es gespickt ist mit Unvorhersehbarem, Unwägbarem und wenn es voller Ereignisse ist, die uns überraschen. Auch das Unerbetene gehört zu den Dingen im Leben, die ihm Tiefe verleihen. Ein Leben aber, in dem wir nichts Unerbetenes hätten, in dem uns weder etwas herausfordern noch überraschen noch vor eine Aufgabe stellen würde, wäre vermutlich ein durch und durch sinnloses Leben.» Diese Dimension des Unverfügbaren gehört immer schon zum Leben. Aber das Alter scheint mir eine Lebensphase zu sein, in der man leichter Zugang zu diesem Aspekt des Lebens findet als in früheren Jahren.

Dazu gehört eine Haltung dem Leben gegenüber, die nicht primär darauf aus ist, Dinge anzupacken und zu ergreifen, sondern die sich zuerst einmal ergreifen und berühren lässt von dem, was ist. Eine Sensibilität dafür, mit der Welt in eine Beziehung der Resonanz zu treten, ohne irgendetwas zu beabsichtigen oder zu bezwecken. Einer, der schon vor Jahren in diese Richtung gewiesen hat, ist der österreichische Sozialgerontologe Leopold Rosenmayr. Er spricht davon, dass es ein besonderes «Paradigma des ergriffenen Ergreifens als einer grundlegenden Altershaltung» gibt. 

Damit ist eine Lebenseinstellung gemeint, die nicht einfach auf irgendwelche Aktivität aus ist, sondern bei der das Tätigwerden aus der Quelle einer allem zugrunde liegenden Passivität gespiesen wird, aus der Haltung einer primären Rezeptivität: Empfangen liegt allem Geben voraus; sich selber helfen lassen ist primär gegenüber der Hilfe für andere; sich ergreifen lassen geht eigenem Ergreifen und Gestalten von Welt voran. Eine solche Haltung lebt mehr aus dem Hinhören als aus dem Reden, mehr aus der Kontemplation als aus dem an Zweck und Nutzen orientierten Tätigsein.

Das lebendige Dasein

Diese Perspektive deckt sich mit der Sicht von Hartmut Rosa, demzufolge «nicht das Verfügen über Dinge, sondern das in Resonanz Treten mit ihnen der Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins ist.» Erst die offene Begegnung mit dem Unverfügbaren, Unkontrollierbaren lässt nach Rosa Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung entstehen, in denen sich etwas vom Geheimnis des menschlichen Lebens erschliesst.

Heinz Rüegger

Heinz Rüegger

Der Theologe, Gerontologe und Ehtiker Heinz Rüegger (*1953) setzt sich seit vielen Jahren mit den Fragen des Alters und des Alterns auseinander. Er ist freier Mitarbeiter am Institut Neumünster und assoziiertes Mitglied im Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich.