In der Stille der Mittagshitze wird die Szenerie vor meinem inneren Auge plötzlich lebendig. Ich sehe sie ein- und ausgehen, die Leute von damals; drei, vier von ihnen sitzen auf dem Mäuerchen, das sich ein paar Meter vor meiner Sitzbank erhebt. Sie debattieren, lachen, schubsen sich kameradschaftlich. Zwei Frauen machen auf dem kleinen Rasenstück Freiluftübungen; ein junger, hagerer, etwas vergrämt wirkender, asketisch blasser Mann, offensichtlich gerade eingetroffen, sieht ihnen dabei fasziniert zu.
Der Neuankömmling, den ich in meiner Fantasie so deutlich sehe, ist Hermann Hesse. Der spätere Literaturnobelpreisträger gehörte ebenfalls zu denen, die auf den «Heiligen Berg» pilgerten und dort innere Klärung und Erhellung, wenn nicht sogar spirituelle Erleuchtung zu finden hofften.
Auch andere klingende Namen aus Kunst, Kultur, Literatur und Gesellschaft verbinden sich mit dem Ort: Hans Arp (Maler, Bildhauer, Lyriker), Sophie Taeuber-Arp (Malerin, Bildhauerin, Architektin, Tänzerin), Isadora Duncan (Ausdruckstänzerin, Choreografin), Ernst Bloch (Philosoph), Paul Klee (Maler), Käthe Kruse (Schauspielerin, Puppenmacherin), Carl Gustav Jung (Psychoanalytiker), Richard Strauss (Komponist). Auch der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer machte 1956 Ferien auf dem Monte Verità, auf dem sich unterdessen ein kommerzieller, noch heute existierender Hotelbetrieb etabliert hatte.
Der einzige Teegarten Europas
Die Mittagsstunde verrinnt im Flug. Von der Sonne leicht betäubt, erhebe ich mich und spaziere gemächlich weiter zur Casa del Tè, vor der sich ein Garten mit sorgfältig gestutzten, hüfthohen Sträuchern ausbreitet. Auf den dunkelgrünen Blättern reflektiert sich matt das Sonnenlicht. Es handelt sich um die erste und immer noch einzige Teeplantage in Europa: Hier werden keine einheimischen Aufgusskräuter wie Minze, Thymian, Salbei und Schlüsselblume kultiviert, sondern richtiger Tee der botanischen Art Camellia sinensis wie in Indien, China und Japan. Das Experiment läuft seit 2006, und das erfolgreich. Die Pflanzen gedeihen, geerntet wird von Frühling bis Spätsommer, und im nahen Pavillon stehen Tees und Teeutensilien zum Verkauf.
Zu bestimmten Zeiten finden hier auch japanische Teezeremonien statt, aber heute haben sich auf dem Sitzplatz hinter dem Teehaus nur ein paar wenige Gäste zu einer Schale Sencha und einer kleinen Plauderei eingefunden. Eine der Teespezialistinnen, ganz in Weiss gekleidet, sitzt auf einer Treppenstufe, isst ein Eis und nickt mir freundlich zu. Ich bin bereits auf dem Weg zu «Laban’s Training Area», wie der Platz auf dem Parkwegweiser angeschrieben ist.
Das Ballett der «Blutten»
Ein paar Minuten nur, und ich stehe auf dem von hohen Laubbäumen und Palmen umfriedeten Wiesenstück, auf dem der Tanzreformer Rudolf von Laban von 1913 bis 1919 jeweils seine legendären Sommerkurse durchführte. Diese Veranstaltungen machten den Monte Verità auch zu einem Zentrum des Ausdruckstanzes. Die neuartige Tanzform, welche die Ausübenden nackt oder nur leichtest bekleidet zu Trommelklängen zelebrierten, wurde von den Einheimischen in lombardischem Dialekt als «Balabiott» bezeichnet – «Blutt-Ballett» beziehungsweise Nackttanz.
Heute kündet nur noch eine Metallskulptur von der künstlerischen Tätigkeit des Tanzmeisters: ein grosses, aus schlanken Metallrohren gefertigtes Ikosaeder. Dieser geometrische Körper ähnelt in der Form einem geschliffenen Edelstein und versinnbildlicht die Bewegungslehre Labans, die sich am Modell des Ikosaeders orientiert.