«Bei diesem Buch fühlte ich mich irgendwie geleitet»

Balkan

Lebensgeschichten von Menschen aus Ex-Jugoslawien: Annemarie Morgenegg hat zugehört und sie gesammelt in einem Buch publiziert. Es ist ein Projekt ganz aus dem Bauch heraus.

2019 seien Sie einfach ohne Ziel mit einem alten VW-Bus in Bern losgefahren, heisst es auf Ihrer Website. Wie kam es dazu?

Annemarie Morgenegg: Ich nahm eine Auszeit von vier Monaten von der Theaterarbeit. Und tatsächlich fuhr ich ohne Ziel los, wollte schauen, wohin der Wind mich weht. Noch nicht mal VW-Bus-fahren konnte ich. (lacht laut) Doch ich habs einfach gemacht, mit meinem Hund als Begleiter – und verspürte nach wenigen Minuten ein grosses Glücksgefühl. Das klingt vielleicht klischeehaft, aber so war es. Und das Glücksgefühl hielt tatsächlich vier Monate lang an.

Wie wählten Sie dann Ihre Route?

Zuerst fuhr ich ins Tessin und besuchte ich meine Tochter. Da hatte ich schon die erste Panne: Der Bus war undicht, bei Regen rann Wasser rein. Dann fuhr ich durch Norditalien, Triest und auf einer Raststätte wurde das Hochfenster von einer Stange durchbohrt. Weiter zog es mich nach Slowenien, weil ich mir in Lipica die Pferdeshow anschauen wollte. Danach musste ich nach Ljubljana und war schliesslich in fünf Garagen, um den Bus zu flicken.

Und schon waren Sie am Tor zum Balkan.

Ja, das erste Mal, von einem ganz kurzen Besuch vor Längerem in Mazedonien abgesehen. Ich dachte dann, ich fahre nach Kroatien, vielleicht scheint dort die Sonne. Dort wurde mein Hund krank und starb, ich fuhr viel über Landstrassen, zu einem Tierkrematorium, kreuz und quer, geriet in den Bergen in einen Sturm, wo ich um mein Leben fürchtete, ich hatte einen riesigen Schutzengel! – und irgendwann während der Reise merkte ich, dass mein Navigationsgerät auf «kürzeste Strecke» eingestellt war, was mich oft über kleine Nebenstrassen führte. Dieses Tempo gefiel mir aber so gut, dass ich es dabei beliess.

«Für dich öffne ich meine Schublade»

«Für dich öffne ich meine Schublade»

In diesem 288 Seiten starken Buch erzählt Annemarie Morgenegg aus Bümpliz nach einem Vorwort von Werner van Gent, ehemaliger Korrespondent unter anderem von SRF, 21 Lebensgeschichten von Menschen aus Ex-Jugoslawien nach. Die Männer und Frauen sind zwischen 1942 und 1983 geboren und berichten über leichte und schwere, bunte und dunkle Seiten von der Zeit in Regionen des ehemaligen Balkanstaates, der Flucht oder Reise in die Schweiz und dem Leben hier. In die Schweiz gekommen sind sie zwischen 1980 und 2000. Ergänzt werden die berührenden Erzählungen von einer historische Chronologie und einer Übersichtskarte von Jugoslawien und den Nachfolgestaaten. Erschienen ist es im Verlag Sage und Schreibe, Bern.

Lesungen u.a. am 3. September um 19.30 Uhr in der Dorfkirche Steffisburg.
Weitere Informationen und Termine: https://annemarie-morgenegg.jimdosite.com/buch

Wie ging es dann weiter?

Ich kam nach Bosnien, die Hauptstadt Sarajevo ist mittlerweile mein «Kraftort», seither fahre ich immer wieder hin. Weiter ging es nach Montenegro, Albanien, in den Kosovo. Da meinte ich im Voraus, ich würde vielleicht einen Tag hier verbringen – doch ich war so begeistert, dass ich gleich eine Woche blieb. Verschiedene Umstände führten mich weiter nach Mazedonien, schliesslich nach Nordgriechenland.

Was hat sie so gepackt?

Oft wurde ich von den Menschen geradezu auf Händen getragen. Ich hatte nie Angst – und ich bin nicht ein wahnsinnig mutiger Mensch. Die Gastfreundschaft war unglaublich. Oft wurde ich direkt von der Strasse weg eingeladen. Als ich dann in Griechenland auf die Fähre nach Italien ging, weinte ich. Dieses einzigartige Glück war jetzt fertig. Und ich bin zuhause in Bümpliz durchaus nicht unglücklich! In Süditalien traf ich mich mit meinem Mann, um ein paar Tage Ferien zusammen zu verbringen. Doch heimfahren wollte ich dann wieder alleine. Insgesamt war meine Durchschnittsgeschwindigkeit auf der ganzen Reise – inklusive der Rückfahrt auf Autobahnen – 44 Stundenkilometer. 

Bis jetzt haben Sie noch gar nichts vom Buch gesagt …

Das kam erst danach. Zurück in Bern ging ich wieder zum Theater arbeiten. Aber ich schaffte den Alltag einfach nicht mehr, alles war zu laut, überall hatte es viele Menschen. Ich war zwar erst 60, kündete aber die Stelle. Wenige Tage darauf erwachte ich eines Nachts und wusste: Meine Reise ist noch nicht fertig. Ich will ein Buch machen, ob es nun jemanden interessiert oder nicht.

Ich wurde irgendwie geleitet, hatte keinen Plan, es war nichts wohlüberlegt, sondern einfach völlig intuitiv – wie in einer Art Trance.

Warum?

Ich fragte mich: Warum kenne ich hier kaum jemanden von den rund 350‘000 Menschen aus dem Balkan? Warum herrschen hier oft Vorurteile ihnen gegenüber? So entstand die Idee, Menschen aus Ex-Jugoslawien zu suchen, die zwischen 1980 und 2000 in die Schweiz emigriert waren. Ich wollte ihnen zuhören, sie ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Am nächsten Morgen machte ich einen Flyer, um Menschen zu finden, die bereit waren zu erzählen. Diesen streute ich dann möglichst breit: per Internet, in Restaurants, bei Vereinen, bei der Deza. Einige Treffen kamen auch dank Begegnungen auf der Strasse oder durch Bekannte zustande.

Was war Ihr Konzept?

Ich hatte keines. Ich wurde irgendwie geleitet, hatte keinen Plan, es war nichts wohlüberlegt, sondern einfach völlig intuitiv – wie in einer Art Trance. In meinem Kopf existierte nur noch das Thema Balkan, mit seinen Menschen, seiner Geschichte, seiner Politik.

Wie wählten Sie die Menschen aus und gingen Sie zu den Begegnungen?

Es war keine Auswahl: Ich traf mich mit allen, die dazu bereit waren. Bei unserer ersten Begegnung konnten sie einfach erzählen, was sie wollten, was sie konnten, was ihnen wichtig erschien. Ich bohrte nicht nach, recherchierte nicht vor. Ich ging einfach hin mit meinem Aufnahmegerät und liess sie aus ihrem Leben erzählen, aus ihrer Jugendzeit, wie sie in die Schweiz kamen, wie es ihnen hier erging. Nach den ersten drei Treffen merkte ich, dass das Erzählen ungezwungener wurde, wenn ich auch selbst von meinem Leben berichtete. Ich war völlig erstaunt, mit welchem Vertrauen und welcher Offenheit die Frauen und Männer mir ihre Schublade öffneten.

Annemarie Morgenegg, 65

Die Autorin des Buches ist auf einem Bauernhof in der Nähe von Bern aufgewachsen. Sie absolvierte die damalige Wirtschaftsmittelschule Bern und arbeitete in der Tourismus- und Reisebranche und in «experimentellen Jobs», wie sie es nennt. Vor der Jahrtausendwende bildete sie sich zur Schauspielerin aus und sammelte diverse Bühnenerfahrungen. Sie arbeitete beim Theater Gurten und war 2010 Mitgründerin des Matte Theaters in Bern. Bis 2019 war sie dort administrative Leiterin und Schauspielerin. Jetzt arbeitet sie frei an unterschiedlichen Projekten.

Das gab wohl viel zu redigieren.

Mir machte das Freude. Es kamen etwa 18 bis 20 Seiten pro Person zusammen. Nach 21 Monaten inklusive dem Redigieren hatte ich ein Manuskript. Neun Monate lang suchte ich nach einem Verlag, und dann erhielt ich am selben Tag gleich zwei Angebote. Schliesslich kam es bei Sage und Schreibe in Bern heraus. Unterdessen hatte ich schon rund 20 Lesungen. 

Wie waren die Reaktionen?

In der Diaspora haben viele grosse Freude daran. Sie finden es gut, dass für einmal die grosse Mehrheit der völlig integrierten Menschen aus dem Balkan eine Stimme bekommt, Menschen, die von unserem Land profitieren und diesem auch sehr viel zurückgeben. Im Weiteren gab es positive Reaktionen darüber, dass Frauen und Männer aus fast allen ehemaligen Republiken Jugoslawiens zu Wort kommen, aus Bosnien, dem Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Serbien und Slowenien, egal welchen Glaubens und welcher politischen Meinung.

Wie geht es nun weiter für Sie?

Die Reise ist auch jetzt noch nicht fertig. Ich habe wirklich mein Herz verloren an diese Landschaften, diese Menschen. Es entstanden so viele wertvolle Bekanntschaften und Freundschaften. Ich mache noch einige Lesungen – aber Buch werde ich wohl keines mehr schreiben.  

Warum?

Das Buch entstand aus meinem Innersten, die Idee wurde mir, von wo auch immer, zugetragen. Worüber sollte ich sonst noch schreiben? Romane gibt es mehr als genug. Und für mich folgt jetzt anderes, wie zurzeit das Freilufttheaterprojekt 2027 zu Carl Albert Loosli, dem «Philosophen von Bümpliz».