Schwerpunkt 29. Dezember 2025, von Isabelle Berger

Graham Tomlin: «Sich selbst zu sein, macht unglücklich»

Selbstoptimierung

Um glücklich zu werden, setzten viele Menschen mit der Fixierung auf sich selbst am falschen Ort an, meint Graham Tomlin. Hinwen-dung zu Gott und den Nächsten sei wichtiger. 

Worin versuchen Sie sich gerade selbst zu verbessern? 

Graham Tomlin: Im Moment überlege ich, wie ich meinen Grosskindern ein gutes Vorbild sein und ihnen die Erfahrung, die ich im Verlauf meines Lebens gewonnen habe, weitergeben kann. Auch versuche ich ein kontemplativeres Leben zu führen, denn ich war immer eine sehr aktive Person. Nun, da ich älter werde, sollte ich es ruhiger nehmen.

Warum verspüren viele Menschen ständig den Drang, sich zu ändern? 

Einerseits, weil wir uns unvollständig fühlen. Wir sind uns bewusst, was wir schlecht machen, und wollen uns darum verbessern. Theologisch gesprochen, sind wir uns unserer Sündhaftigkeit bewusst. Wir sehen, wo wir Gott und Jesus Christus nicht gerecht werden. Andererseits werden uns auf Social Media die Leben anderer Menschen vorgeführt, die immer besser als das unsere zu sein scheinen. Das führt zu Neid, der uns dazu antreibt, zu versuchen, wie diese Leute zu sein. Neid gilt im Christentum als Sünde: Sich unzulänglich zu fühlen, das tut uns nicht gut.

Wann sollten wir uns verändern? 

Zum einen, wenn wir bei uns selbst Schwächen und Mängel entdecken. Zum anderen, wenn ich in einer anderen Person – oder ich als Christ in Jesus Christus – eine gute Eigenschaft entdecke, welche ich mir aneignen möchte. Etwa Mitgefühl oder Grosszügigkeit.

Graham Tomlin, 67

Der britische Theologe ist Autor und Bischof der Anglikanischen Kirche. Seit 2022 leitet er das Centre for Cultural Witness, welches das öffentliche Verständnis des Christentums erneuern will. Davor war er Bischof von Kensington (London) und Rektor des St. Mellitus College. 2025 erschien sein auf Deutsch übersetztes Buch «Sei du selbst! Und andere schlechte Ideen» im Theologischen Verlag Zürich. 

Welche problematischen Ideale sehen Sie in den sozialen Medien? 

Insbesondere, dass das Geheimnis des Glücks sei, sich selbst zu sein. Das ist schlecht, weil es dazu führt, dass ich nur an mich selbst denke. Doch sind für mich genau die Leute am attraktivsten, die nicht von sich selbst besessen sind, sondern an andere denken. Zudem sind wir viel komplexer, als wir denken. Es gibt kein inneres Selbst, das entdeckt und ausgelebt werden will. Wir alle sind innerlich widersprüchlich. In christlichen Begriffen ausgedrückt, trage ich in mir das alte Selbst, das sich nur um mich selbst dreht, und das neue, das sich um die Liebe zu Gott und meinen Nächsten dreht.

Christen und Christinnen glauben, dass Gott sie genauso schuf, wie er sie will. Verlangt die Bibel aber nicht auch Arbeit an uns selbst? 

Ja, das ist richtig. Gemäss den biblischen Schriften sind wir zwar nach Gottes Bild geschaffen und Objekte göttlicher Liebe, aber gleichzeitig sind wir gefallen und gebrochen. Deshalb müssen wir an uns arbeiten. Darum dreht sich das spirituelle Leben. Der Reformator Martin Luther definiert Sünde so, dass unser Herz auf uns selbst hin verkrümmt ist. Also müssen wir neu ausgerichtet werden, auf Gott und unseren Nächsten. Somit lehrt uns die christliche Weisheit genau etwas anderes, als uns auf Social Media gezeigt wird.

In den sozialen Medien tobt ein Kampf um Beliebtheit, Erfolg und Reichtum. Bietet die christliche Gemeinschaft einen Gegenentwurf? 

Sie soll eine Gemeinschaft des Widerstands gegen den vorherrschenden Zeitgeist sein, der Gott an den Rand drängt. Im Christentum lernen wir einen anderen Weg kennen. Etwa beim Abendmahl sehen wir, dass es keinen Unterschied unter den Menschen gibt. Alle bekommen dasselbe: Brot und Wein in unsere Hände. 

In dieser Gemeinschaft sitzt du vielleicht neben jemandem, der sehr anders ist als du, und wirst dazu aufgerufen, diese Person zu lieben. Nicht, weil du sie als Freund oder Freundin gewählt hast, sondern, weil Gott sie gerufen hat, genauso, wie er dich gerufen hat. In der Kirche wird nicht gefragt, wie reich du bist, sondern, wie fähig du bist, andere Menschen zu lieben.

Das Christentum entlarvt unsere schädlichen Ideale als Lügen.

Woher kommt es, dass wir auf Social Media die Aufmerksamkeit von Fremden suchen? 

Möglicherweise davon, dass wir unseren Glauben und das Gefühl für Gottes Aufmerksamkeit verloren haben. Wenn ich weiss, dass Gott mit Liebe auf mich schaut, brauche ich die Aufmerksamkeit von Fremden nicht so sehr.

Wie befreit uns das Evangelium vom sozialen Druck, immer schöner, reicher, erfolgreicher, dünner, modischer zu sein? 

Keine andere Religion oder Philosophie betont so sehr wie das Christentum, dass Gott Liebe ist, und stellt dies ins Zentrum. Wir alle bedürfen zwingend der Liebe und erleben, dass wir gedeihen, wenn wir geliebt werden. Dieser tiefen menschlichen Erfahrung entspricht das Christentum, indem es uns lehrt, dass Gott uns liebt und uns vergibt. Aus diesem Grund besitzt es eine transformative Kraft. 

Wie äussert sich dies? 

Schädliche Ideale werden als Lügen entlarvt. Ein Leben unter ständigem Neid und Druck ist ein ruheloses und unbefriedigendes Leben. Das Christentum sagt uns, dass wir uns um diese Dinge gar nicht erst sorgen müssen. Und es auch nicht sollen, denn diese trügerischen Ideale versklaven uns schlussendlich immer. Dagegen lehrt uns der christliche Glaube einen Lebensrhythmus, der auf dem Gebet und dem Dienst an Gott und an unseren Nächsten aufbaut. Dieses Nach-aussen-Wenden macht uns glücklicher als der andere Weg. 

Wir sollen uns also Gott und unseren Nächsten hingeben. Gibt es dabei auch ein Zuviel? 

Jesus sagt: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Er geht also davon aus, dass wir uns bereits in angemessener Weise selbst lieben. Er sagt aber nicht: «Liebe zuerst dich, und wenn du noch Zeit hast, alle anderen.» Er meint, dass wir dafür sorgen sollen, dass unsere Nächsten dasselbe haben wie wir.

Besonders am Anfang kann Beten frustrieren. Man weiss nicht, was man sagen soll, es wird einem langweilig, oder man wird abgelenkt.

Dieses Gebot umzusetzen, ist uns Menschen möglich. Gibt es Veränderungen, die nur Gott herbeiführen kann? 

Wir sind von unseren Sehnsüchten getrieben, die sich aber nur schwer ändern lassen. Doch wenn Gottes Gnade in unserem Leben zu wirken beginnt, denken wir plötzlich: Was ist, wenn Gott und nicht der Zufall oder menschliche Anstrengung die Quelle von all dem Schönen, Wahren und Guten ist, das ich im Leben geniesse? Vielleicht sollte ich dieser Erkenntnis mehr Beachtung schenken. In uns wächst dadurch ein Verlangen nach Gott. So verändert die Gnade unsere Sehnsüchte. 

Was lässt sich tun, um Gottes verändernde Kraft zu erfahren? 

Einerseits beten. Wir sollten den Heiligen Geist immer wieder bitten, zu uns zu kommen. Er ist ein Geschenk, und wir können immer noch mehr von ihm gebrauchen. Andererseits tatsächlich aktiv werden und aus unserem Glauben heraus handeln. Der Theologe Blaise Pascal, der im 17. Jahrhundert lebte, rät einem noch zweifelnden Anfänger, so zu leben, als wäre wahr, was er glaubt. Während er das tue, werde er entdecken, dass es wahr ist. So trete Gnade in sein Leben.

Herkömmliche Selbstoptimierung ist mit Schwierigkeiten verbunden. Wie sieht es beim Beten aus? 

Besonders am Anfang kann Beten frustrieren. Man weiss nicht, was man sagen soll, es wird einem langweilig, oder man wird abgelenkt. Beten ist oft harte Arbeit. Doch Jesus lehrt uns, dass wir beim Beten dranbleiben müssen. Dabei dürfen wir gewiss sein, dass das Verlangen zu beten bereits beweist, dass der Heilige Geist in uns wirkt. Er entfacht in uns den Wunsch, uns Gott zuzuwenden. Und er wird Gott gegenüber auch unsere oft hilflosen Betversuche deuten und ihm übersetzen, was wir wirklich meinen.