Er hat sich sein Leben zurückerobert

Inklusion

Raphael Petit ist seit einem Unfall Tetraplegiker. Die Regie über sein Leben führt er mit Hartnäckigkeit, Humor und Liebe trotz allem selbst.

«Dumm gelaufen», sagt Raphael Petit lapidar. «Ich musste dringend pinkeln, bin nach dem Tauchen vom Boot ins Meer gesprungen, und seither managen andere meinen Körper.» Vor dem Sprung war Raphael ein 23 Jahre junger Mann auf grosser Reise, im Alltag Elektriker. Seit dem Sprung ist er Tetraplegiker, vom Schlüsselbein an abwärts gelähmt, ein Pflegefall.

Natürlich habe er sich x-mal gefragt, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er vor 26 Jahren nicht gesprungen wäre, sagt Petit. Natürlich sei er wütend gewesen, frustriert, deprimiert, in dunklen Stunden lebensmüde. Aber: «Es war ein Unfall. Ich war noch da. Ich musste lernen, mit den Folgen zu leben.»

Es ist kein Jammerbuch, weil mein Leben kein Jammerleben ist.
Raphael Petit

Wie schwierig das war, wie viel Durchhaltewille nötig, erzählt Raphael Petit in seinem Buch «Plötzlich einer von denen», das bei Edition Unik erschienen ist. Es liest sich erstaunlich unterhaltsam. Petit sagt: «Es ist kein Jammerbuch, weil mein Leben kein Jammerleben ist.» Mit Selbstironie und teilweise schwarzem Humor schreibt er von seinen Erlebnissen als «Behindi» – wie er sich selbst nennt.

Selbstbestimmt leben

Per Fernsteuerung öffnet Raphael Petit die Tür seiner Parterrewohnung. Hier lebt er mit seiner Partnerin Dominique, die gerade für zwei Wochen auf Wandertour ist. «Bevor wir reden, musst du Kaffee machen», sagt Petit und fährt mit seinem elektrischen Rollstuhl in die Küche, um mir die Maschine zu erklären. Dort schreibt eine seiner Assistentinnen gerade eine Einkaufsliste.

«Kaufst du bitte noch Honigsenf ein und Schokolade mit Pistazien?», fragt Petit. Andere managen seinen Körper, er managt dafür ein ganzes Team, dank dessen Hilfe er nicht in einer Institution leben muss. Jeden Tag ist jemand bei ihm daheim. Körperpflege, Mahlzeiten vorbereiten, essen, Haushalt, aufs WC gehen – bei fast allem ist er auf die Hilfe anderer angewiesen. «Man gewöhnt sich daran», sagt er.

Viele tolle Menschen arbeiten bei mir, die nicht nur Dienst nach Vorschrift machen.
Raphael Petit

«Ich bin Arbeitgeber und gleichzeitig Gegenstand der Arbeit», erzählt Petit beim Kaffee, den er mit einem Strohhalm trinkt. Dank des Assistenzbudgets des Kantons Bern kann er seine Betreuung so organisieren, wie sie seinen Bedürfnissen entspricht. «Viele tolle Menschen arbeiten bei mir, die nicht nur Dienst nach Vorschrift machen.»

Petit arbeitet 40 Prozent. Er ist bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn für die Website verantwortlich. Davor hat er beim Eidgenössischen Aussendepartement gearbeitet. «Ich bin etwas stolz auf mich, dass ich den Schritt zurück in den ersten Arbeitsmarkt geschafft habe», sagt er. Nach der Reha in Nottwil holte er das Gymnasium nach und studierte Geschichte und Politikwissenschaften. Seine Stelle bedeutet ihm viel. «Es ist für mich überlebenswichtig, an der Gesellschaft teilhaben zu können.»

Wieder auf Reisen

Raphael Petit kann vieles nicht machen. Aber es ist offensichtlich, dass er sich entschieden hat, seine Energie in jene Dinge zu stecken, die er machen kann: seine Arbeit, schreiben, Konzerte besuchen, Kino, Theater, Freunde treffen. Oder wandern im Rollstuhl, denn er ist gern in der Natur unterwegs. Das komme für ihn am nächsten an eine körperliche Aktivität heran, sagt er, und wohl deshalb sei er manchmal etwas risikoreich «offroad» unterwegs. Zwei Stürze waren die Folge. «In 26 Jahren – das liegt drin.»

Bei Krisen, sagt Raphael Petit, denke er an all die Menschen, die ihn lieben und die er liebe. «Das gibt mir Kraft.» Auch auf grosse Reise ging er wieder. Er machte die Planung, Dominique und sein Team bauten einen Camper so um, dass er mit nur einer Begleitperson unterwegs sein konnte. 22 Wochen lang tourte er in wechselnder Besetzung durch Europa. Und schwamm in Sardinien und Südfrankreich auch wieder im Meer.