«Die Schweiz erfüllt die Anforderungen weiterhin nicht»

Menschenrechte

Die Juristin Cordelia Bähr wurde international geehrt – dafür, dass sie vor einem Jahr der Klage der Klimaseniorinnen zu Recht verhalf. In der Schweiz ist die Anerkennung geringer.

Es war ein historischer Moment: Am 9. April 2024 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall der Klimaseniorinnen, dass Staaten die Pflicht hätten, betroffene Bürgerinnen und Bürger zu schützen auch vor den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Lebensqualität. Und der EGMR urteilte, dass die Schweizer Klimapolitik nicht ausreicht, um die 1.5°C-Grenze einhalten zu können und darum nicht menschenrechtskonform ist.

Auch beispielsweise das Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) hielt unter anderem fest: «Was für ein wichtiger Entscheid und Tag für die Klimagerechtigkeit!» Und Kurt Zaugg, damals Co-Leiter der Fachstelle des Vereins «Oeku Kirchen für die Umwelt», sagte in einem Gespräch mit «reformiert.»: «Das Gericht nimmt die wissenschaftlichen Grundlagen ernster, als das in der Politik teilweise der Fall ist.» Und auch die Kirchen sieht Zaugg in der Pflicht, die geltenden gesetzlichen Vorgaben einzuhalten.

Ein ereignisreiches Jahr

Ab Mitte Mai läuft nun «Trop Chaud» in den Kinos – und in dem Dokumentarfilm spielt neben anderen die Rechtsanwältin Cordelia Bähr eine Rolle. Für sie war denn auch enorm viel los seit dem Urteil. Bähr leitet die juristische Vertretung der Klimaseniorinnen und sagt: «Es war ein ungewöhnliches Jahr. Neben meiner Arbeit als Rechtsanwältin habe ich viel Öffentlichkeitsarbeit geleistet mit Referaten, Medienanfragen und anderem.» Zudem wird im September ein Buch mit ihrer Mitarbeit – neben Brigitte Hürlimann (Hauptautorin) und Elisabeth Stern – über den Fall der Klimaseniorinnen.

Doch die Schweiz erfüllt die Anforderungen des Klimaseniorinnen-Urteils weiterhin nicht.
Cordelia Bähr, Rechtsanwältin der Klimaseniorinnen

Anerkennung erhielt Cordelia Bähr für ihr Wirken auf international angesehener Ebene: Für die Zeitschrift «Nature» ist sie einer von zehn Menschen, die die Wissenschaft im Jahr 2024 massgeblich geprägt haben. Und das Magazin «Time» zählte sie unter den «Pioneers» soeben zu den hundert einflussreichsten Menschen auf der Welt – sie habe Gerechtigkeit neu definiert. Das sind für die Juristin alles Dinge, die sie trotz der Dichte an Ereignissen und Arbeit als schön empfindet, wie sie auf Anfrage sagt.

Mit wenig politischen Folgen

Doch was ist seit dem Urteil politisch passiert? Das hingegen geht für Bähr in die Kategorie Enttäuschungen: «Die Reaktion von Parlament und Bundesrat habe ich negativ erlebt.» So hat der Bundesrat ein halbes Jahr nach dem Urteil dem Ministerkomitee des Europarats mitgeteilt, dass er das Urteil als umgesetzt erachte, und die Schliessung des Falls beantragt. Das Komitee überwacht den Vollzug der Urteile des EGMR. «Doch die Schweiz erfüllt die Anforderungen des Klimaseniorinnen-Urteils weiterhin nicht», hält Cordelia Bähr fest. 

Entsprechend habe das Ministerkomitee im März 2025 entschieden, dass die Schweiz nachbessern müsse. «Unser Land bleibt den Beweis schuldig, dass es genug tut, um die globale Erwärmung auf 1.5°C zu beschränken», erläutert die Juristin die Haltung des Ministerkomitees. Nun müsse die Schweiz muss dem Komitee die Grundlagen ihrer Klimastrategie erklären.

Das Ministerkomitee des Europarats hat mehrere Möglichkeiten, die als ultima ratio bis zum Ausschluss der Schweiz aus dem Europarat reichen.
Cordelia Bähr, Rechtsanwältin der Klimaseniorinnen

Im September 2025 wird die Umsetzung des Entscheids durch die Schweiz im Ministerkomitee erneut überprüft. Im Übrigen haben nicht «nur» die Klimaseniorinnen festgestellt, dass die Schweizer Klimapolitik weit davon entfernt ist, die im EGMR-Urteil festgehaltenen Anforderungen an eine menschenrechtskonforme Klimapolitik zu erfüllen. Auch eine breite Koalition von Nichtregierungsorganisationen und die Schweizerische Menschenrechtsinstitution SMRI haben dies in Stellungnahmen an das Ministerkomitee aufgezeigt.

Doch was, wenn Bundesrat und Parlament weiter der Ansicht sind, es werde hierzulande genug getan? Cordelia Bähr nennt die Optionen: Bis das Ministerkomitee zum Schluss komme, dass das Urteil umgesetzt sei, überwache es dies. Und schliesslich: «Das Komitee hat mehrere Möglichkeiten, die als ultima ratio bis zum Ausschluss der Schweiz aus dem Europarat reichen.» Oeku-Fachstellenleiter Kurt Zaugg war also fast schon prophetisch mit seiner Aussage vor einem Jahr.