Kultur 25. Juni 2024, von Hans Herrmann

Ein Edelstein im Schmökerschrank

Literatur

Öffentliche Bücherschränke enthalten zu einem grossen Teil Secondhand-Krimis. Manchmal aber spielt einem der Zufall eine Entdeckung zu, mit der man nicht gerechnet hätte.

Es war ein spontaner Griff in den öffentlichen Bücherschrank vor unserer Redaktion im Berner Mattequartier. Ich wollte mir eine kostenlose Wochenendlektüre angeln und blieb inmitten all der bunt aufgemachten Thriller und Krimis an einem alten, unscheinbaren Buch hängen. Der Umschlag fehlte, der gelbe Band war nur am Rücken betitelt mit: «Gebser, Asien lächelt anders». Im Innern dann noch mit Untertitel: «Ein Beitrag zum Verständnis östlicher Wesensart». Erschienen 1968 im Ullstein Verlag.

Eine kulturphilosophische Erörterung über Asien, die vor 55 Jahren entstanden ist, aufgrund einer grossen Asienreise des Verfassers Jean Gebser im Jahr 1961 – dieses Buch machte mich neugierig. Ich packte es in meine Tasche und vertiefte mich am Abend in die Lektüre, die mich sofort in ihren Bann zog. Der Zufall hatte mir eine besondere Preziose zugetragen, die ich auf anderem Weg höchstwahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hätte.

Gebser, lese ich auf Wikipedia, kam 1905 in Deutschland zur Welt und starb 1973 in Bern. Er war Philosoph, Schriftsteller, Lyriker und Übersetzer. Sein grosses Thema waren die Bewusstseinsstrukturen der Menschheit und deren Einwirkung auf das kulturelle Schaffen.

Zutreffende Prognose

In diesem Sinn bereiste er auch Asien, indem er versuchte, den asiatischen «Spirit» zu erfassen und diesen dem europäischen Denken und Handeln gegenüberzustellen. Er tat dies aus einem bemerkenswert hellsichtigen Antrieb heraus: «Heute nun müssen wir uns davon Rechenschaft ablegen, dass Asien, vor allem China und in seinem Gefolge Japan und Indien, auf dem Wege sind, innerhalb der nächsten Jahrzehnte Weltmächte zu werden. Wenn es uns bis dahin nicht gelingen sollte, ein vorurteilsloses [...] Verständnis für Asien aufzubringen, so werden wir uns mit ihm nicht ins Benehmen setzen können», schrieb er vor nunmehr 55 Jahren.

Öffentliche Bücherschränke sind oft wahre Schatztruhen.

China als künftige Grossmacht? Diese mutige Voraussage aus den 1960er-Jahren, als noch der Diktator Mao das Land regierte, ein Land, das damals noch als eines der ärmsten der Welt galt, zeugt von der Klarsicht des Verfassers. Die Gegenwart jedenfalls gibt ihm recht, heute spielt China ganz vorne mit.

Jean Gebser empfiehlt, sich Asien als komplementäre Welt vorzustellen, in der vieles, was der Westen verloren habe, noch wirksam sei. Nämlich «prärationale» Komponenten des Menschen, «die dem Herzen und den Sinnen entspringen» und von asiatischen Menschen «unverzwängt und auf eine entwaffnend natürliche Weise gelebt» würden. Im Gegensatz zu den Menschen im Westen, die den Verstand auf das rein Rationale reduzieren würden, was letztlich zu einer Armut von Geist und Seele führe.

Alles an Asien vermochte Gebser aber nicht zu begeistern. Gerade die Schicksalsergebenheit, wie er sie damals in Indien antraf, führte dazu, dass man Menschen am Rand der Gesellschaft einfach ihrem Los überliess. Er schildert dies am Beispiel einer gewissen Sœur Thérèse, einer Nonne, die in den Slums von Kalkutta lebte und sich der Armen annahm. Unter anderem auch einer alten Frau, die seit Tagen mitten auf einer viel begangenen Gasse im Sterben lag. Die Einheimischen griffen nicht ein, weil sie die Mächte des Schicksals nicht herausfordern wollten. Einzig die Nonne hatte den Antrieb zu helfen. Die Todkranke starb in ihrer Obhut, umsorgt und mit einem Lächeln im Gesicht.

Eine alte Bekannte

Es dauerte bei mir als Leser eine Weile, bis ich begriff: Sœur Thérèse ist identisch mit Mutter Teresa! Mit jener unermüdlichen Fürsorgerin, die später im Westen als Inbegriff christlicher Nächstenliebe gefeiert werden sollte. Heute ist sie heiliggesprochen, damals war sie offenbar einer westlichen Leserschaft noch kaum bekannt. Was man in einem zufällig aufgelesenen alten Buch nicht alles erfährt! Ich empfehle allen Leseratten dringend: Durchstöbert die öffentlichen Bücherschränke, plündert sie – denn sie sind zuweilen wahre Schatztruhen.

Jean Gebser: Asien lächelt anders. Ein  Beitrag zum Verständnis östlicher Wesensart. Ullstein, 1968. Antiquarisch erhältlich.