Liefert liberale Theologie die zeitgemässeren Antworten zu Bibel, Gott, Leben und Sterben als andere Strömungen?
Die liberale Theologie ist befreiend. Ihre Antworten auf die Fragen der Zeit orientieren sich nicht nur an einer Haltung, sondern auch an der Machbarkeit. Mit Blick auf heutige Ersatzreligionen wie Sport, Geld, Körperkult und anderen hat die liberale Theologie die besseren Antworten als eine dogmatisch orientierte Theologie.
Wie ist das genau zu verstehen?
Konservative Theologien – wie die sogenannte positive Richtung in der Landeskirche oder auch die Freikirchen – sprechen von Offenbarung und Dogma. Das findet in der heutigen scheinbar religionsarmen Gesellschaft wenig Widerhall. In Wahrheit aber ist das Religiöse nicht verschwunden, das Bedürfnis nach religiöser und spiritueller Orientierung ist überall sichtbar, gerade auch in den vorher genannten Ersatzreligionen. In diesem oft kirchen- und bibelfernen Umfeld kann ein liberaler theologischer Ansatz die Leute besser ansprechen als ein dogmatischer.
Wie prägte die liberale Bewegung die Berner Kirche im Zeitraum, in dem vom Buch die Rede ist, also von 1981 bis 2021?
Einerseits begann vieles zu bröckeln, die Pfarrerinnen und Pfarrer des Nachwuchses wollten sich oft nicht mehr in eine bestimmte theologische Richtung einbinden lassen. Das war natürlich auch bei den Liberalen zu merken. Andererseits haben diese die Kirche in den besagten 40 Jahren stark mitgeprägt. In meiner Zeit als Synodalratspräsident wurde zwischen den Reformierten Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn und mehreren freikirchlichen Gemeinschaften ein Papier zur gegenseitigen Anerkennung unterzeichnet. Am Berner Altenberg entstand das «Haus der Kirche» mit den zentralen kirchlichen Diensten, weiter erfolgte eine landeskirchliche Reorganisation, und auch bei der Schaffung einer Verfassung für die Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, die 2020 in Kraft getreten ist, brachte sich Bern stark ein – all dies trägt eine deutlich liberale Handschrift.
Wie liberal im theologischen Sinn sind die Predigten, die landauf, landab im Kanton Bern heute zu hören sind?
Ich bin nicht umfassend auf dem Laufenden, was derzeit alles gepredigt wird, zumal ich selber sonntags auch noch predige. Alles in allem vermisse ich etwas das Anliegen, den Glauben auch dem Verstand zugänglich zu machen. Das ist ein originär liberales Anliegen. Stattdessen sehe ich, dass das konservative Element zunimmt, also häufiger evangelikal gepredigt wird. Auch Predigten mit einer stark sozialen und ökologischen Komponente sind heute öfter zu hören.
Was können die Liberalen zur Zukunft der Berner Reformierten beitragen?
Unser Kapital ist die Offenheit. Damit können wir Liberalen in unsere Zeit hineinwirken. Entsprechend bringen wir uns dezidiert in den interreligiösen Dialog ein und greifen mit wachem Sensorium die aktuellen Strömungen in Kirche und Gesellschaft auf, um sie in zeitgemässer Form in das Glaubensleben zu integrieren.