Recherche 06. Juni 2024, von Hans Herrmann

«Ein Glaube, der nichts fordert, tröstet auch nicht»

Nachruf

Jürgen Moltmann, der «Theologe der Hoffnung», ist im Alter von 98 Jahren verstorben. Der Tübinger Professor wirkte weit über die deutschen Grenzen hinaus.

In einem Videointerview von 2017 fragt der kroatische Theologe Miroslav Volf seinen Gesprächspartner als Erstes: «Wer ist Gott?» Der Interviewte antwortet: «Jesus Christus – er ist das menschliche Gesicht Gottes. Und ohne Jesus Christus möchte ich nicht an Gott glauben.» Der, der dies sagt, ist der deutsche Theologe Jürgen Moltmann, damals im Alter von 91 Jahren – einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts.

Mit seiner Aussage im Interview bekundete er, dass er nicht nur ein theologischer Denker und Lehrer von Weltrang, sondern auch ein gläubiger Christ im Wortsinn war, konsequent ausgerichtet auf den Gekreuzigten und Auferstandenen. Nun ist Jürgen Moltmann verstorben, am 3. Juni 2024 im Alter von 98 Jahren.

Prägend für die Theologie seiner Zeit

«Theologie der Hoffnung» – so heisst Werk, das der gebürtige Hamburger im Oktober 1964, in einer Welt des Um- und Aufbruchs, veröffentliche. Mit diesem Wurf schrieb der damals 38-Jährige Theologiegeschichte. Das Buch sorgte für internationale Aufmerksamkeit, insbesondere auch in den USA, und machte dessen Verfasser zu einem viel beachteten Theologen.

In der Folge strahlte er als akademischer Lehrer und Autor wegweisender Werke weit über die deutschen Grenzen hinaus und prägte den theologischen Nachwuchs im protestantischen Umfeld stark mit. Seine Hauptwirkungsstätte war die Universität Tübingen, wo er von 1967 bis zu seiner Emeritierung 1994 als Professor tätig war. Moltmann ist einer der meistübersetzten deutschen Theologen des 20. Jahrhunderts.

Jürgen Moltmann war es wichtig, in einer stark von der Vernunft geprägten Zeit zwischen dem Verstehen und dem Glauben eine Brücke zu schlagen. Und ihm war es ebenso wichtig, nicht nur auf eine Jenseitshoffnung zu bauen, sondern die Hoffnung auf das Gottesreich auch im irdischen Dasein erlebbar zu machen: durch engagiertes christliches Handeln und in der dezidierten Auseinandersetzung mit der weltlichen Politik, die oft genug nicht den Menschen, sondern der Macht dient. Seine politische Ausrichtung war linksprogressiv, was ihm von konservativen Gläubigen zuweilen angekreidet wurde.

«Die Kirche ist zu harmlos»

Seine eigene Kirche, die evangelische, erachtete er als kraftlos und im Grunde wenig geeignet, die frohe Botschaft in der Welt wirksam werden zu lassen. In einem Interviewband, der 2016 zu seinem 90. Geburtstag erschien, sagt er: «Die evangelische Kirche geht nach meiner Überzeugung an ihrer eigenen Harmlosigkeit zugrunde. Ein Glaube, der nichts fordert, tröstet auch nicht.»

Ich denke über den Tod hinaus und nicht bis zum Tod.
Jürgen Moltmann, Theologe

Von Moltmanns Wirken nachhaltig beeinflusst ist auch der Schweizer Theologieprofessor Matthias Zeindler, Bereichsleiter Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura Solothurn. «Jürgen Moltmann gehört zu den prägenden Figuren auf meinem theologischen Weg», erklärt er gegenüber «reformiert.». «Die Impulse, die ich von ihm beim Gottesverständnis, der Ekklesiologie – also der Lehre von der Kirche – oder dem Verständnis der Schöpfung erhalten habe, sind zahllos.»

Moltmann sei lebenslang im Dialog gestanden: mit der Philosophie, der orthodoxen und katholischen Theologie, vor allem aber den Befreiungstheologien in Lateinamerika und Asien, der feministischen Theologie und dem Judentum, so Zeindler. «Von ihm habe ich gelernt, was reformierte Theologie in einem weiten Horizont sein kann. Das Wichtigste, gerade auch als Mann der Kirche, ist für mich seine konsequente Ausrichtung am kommenden Reich Gottes. Und Sätze wie dieser: ‹Freude ist der Sinn des menschlichen Lebens.›»

Impulse von seiner Frau

Im selben Jahr, in dem der prominente Theologe 90 wurde, verstarb seine Frau Elisabeth Moltmann-Wendel, eine Pionierin der feministischen Theologie. Von ihr hatte Jürgen Moltmann wichtige Impulse für sein eigenes Werk empfangen. Das männliche und das weibliche Verständnis der biblischen Tradition seien unterschiedlich, sagte er.

Vor acht Jahren antwortete er einem Journalisten auf die Frage nach seinen persönlichen Gedanken zum Sterben: «Ich habe den Tod schon hinter mir, denn ich müsste nach menschlichem Ermessen schon dreimal tot sein. Warum sollte ich Angst vor meinem Tod haben?» Und weiter: «Ich bin neugierig. Und ich hoffe, ich weiss, was kommt, obwohl es eine grosse Überraschung sein wird. Insofern denke ich über den Tod hinaus und nicht bis zum Tod.»