Glaube 11. Dezember 2024, von Friederike Rass

Der Liebe die Türe öffnen

Gastbeitrag

Die Weihnachtsgeschichte ist mehr als eine vertraute Erzählung. Sie ist die Wiege des christlichen Denkens und Handelns, indem sie die Zerbrechlichkeit des Seins als Gabe begreift.

«Die kenne ich schon!», flüstert der kleine Bub, so laut, wie es nur Kinder können, dass es die ganze Kirche hört. Jahr für Jahr hören wir die Weihnachtsgeschichte. Jahr für Jahr hören wir sie in einer anderen Zeit. Die Welt ist eine andere, wir sind andere geworden. Der Text bleibt derselbe.

 Weshalb erzählen wir jedes Jahr diese Geschichte? Die Erzählung vom jungen Paar, das in unsicheren Zeiten Raum sucht, vom Neugeborenen, das in einer Futterkrippe geborgen wird? Wir setzen damit ein klares Zeichen: Die Weihnachtsgeschichte und damit die Wiege des christlichen Denkens ist nicht Theorie, sie ist Praxis. Wir zeigen sie einander, lehren sie, üben sie. Ihr Ort ist unser Miteinan-der: im Gottesdienst, in unseren Familien und Wahlfamilien, im öffentlichen Raum.

In den Zwischenräumen

Sie lädt uns ein, im schmalen Zwischenraum zwischen Text und Gegenwart uns selbst zu suchen. In den kleinen Verschiebungen der Interpretationen scheint der Grund unseres Menschseins auf. Stets werden wir die Geschichte anders hören. Was uns an ihr berührt, herausfordert, ärgert: Sie konfrontiert uns mit uns selbst, als Einzelne, als Gesellschaft.   

Was ist es, das über alle Zeiten hinweg in unseren Traditionen aufscheint und uns in ruhigen Momenten oder auch ganz unerwartet anrühren kann, wenn wir abends Lichter in den Fenstern sehen oder Krippe und Weihnachtsschmuck aus ihren Kistchen befreien? In ihrer Schlichtheit adressiert die Erzählung den Wesenskern der Menschlichkeit.

In der improvisierten Stallgemeinschaft werden alle Rollenzuschreibungen zurückgelassen. Da geht es nicht darum, wer wir sein sollten oder Erwartungen zu erfüllen. Die Weihnachtsgeschichte macht uns frei davon: Sie fragt nach dem Menschen hinter allen Konventionen. Mit dem Bild des neu geborenen Kindes in der rauen Futterkrippe fragt sie, wo wir der Menschlichkeit in unserer Gesellschaft ein Zuhause geben. Sie fragt, wo wir der Verletzlichkeit unter uns Raum geben. Mit sanfter Stimme fragt sie nach dem Ort, wo wir ganz Mensch sein dürfen.

Friederike Rass

Die Theologin Friederike Rass ist Gesamleiterin des Sozialwerks Pfarrer Sieber. Zuvor war sie Geschäftsführerin der Evangelischen Gesellschaft Zürich. Rass studierte Theologie und Philosophie in Tübingen, Hamburg und Buenos Aires. Anschliessend doktorierte sie in Zürich und in den USA. Später arbeitete sie als Projektleiterin für internationale Innovationszusammenarbeit im Staatssekretariat für Forschung und Innovation. 

Wo wir diese Frage wachhalten und uns dem Miteinander unverzagt aussetzen und es üben wollen, da ist Weihnachten. Die Weihnachtsgeschichte beschränkt sich nicht auf den Heiligen Abend oder die Kirchenmauern. Mit liebevoller Beharrlichkeit fragt sie nach unserer Menschlichkeit überall dort, wo wir wirken. 

Das trubelige Miteinander

Ihre Schlichtheit darf uns nicht täuschen: Sie hat die Kraft, Fronten zu versöhnen, Unrecht zu überwinden, Frieden zu stiften. Wir haben diese Kraft. Die Weihnachtsgeschichte zeigt, was entstehen kann, wenn wir nicht auf ideale Bedingungen warten und mit dem anfangen, was zur Verfügung steht. Wenn wir unsere Menschlichkeit nicht auf einen bestimmten Kontext beschränkten, sondern ihr im Alltag Raum geben.

Sie steht für den Schutz einer Gemeinschaft, in der Verletzlichkeit keine Schwäche ist, sondern besondere Würdigung verdient. Unsere Rollen sind nicht relevant. Da stehen Ochs und Esel bei Hirten, einer jungen Mutter, einem Zimmermann und Königen. Sie zeichnet das Bild eines trubeligen Miteinanders, in dem Nichtsesshaften die wichtigste Botschaft anvertraut wird. In dem Menschen mit Macht und Einfluss auf die leisen Zeichen ihrer Zeit achten und ihre Gaben in deren Dienst stellen.

Die Weihnachtsgeschichte stellt unsere Ordnung auf den Kopf und verwandelt einen kargen Stall in einen Ort der Hoffnung. Sie ermutigt uns, nach den Rändern der Gesellschaft und Grenzen unseres Denkens zu fragen. Sie konterkariert eine Ordnung, in der wir Menschen ausgrenzen und Menschen sich selbst verlieren, weil sie sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft verstehen. Sie zeichnet ein neues Bild, in dessen Zentrum die unhintergehbare Verletzlichkeit menschlichen Lebens im Schutz einer Gemeinschaft steht, die einander in dieser Aufgabe anvertraut ist. Niemand bleibt allein. 

Die Ordnung steht kopf

Die Weihnachtserzählung, als Praxis verstanden, eröffnet keinen neuen Raum neben all den Räumen, die wir schon bespielen, in Familie, Beruf, Freizeit. Sie setzt ein Vorzeichen davor. Weihnachten steht für die Art, wie wir unsere Räume gestalten. Das Besondere der Weihnachtsgeschichte ereignet sich im Alltäglichen. Wo immer wir im Leben stehen: Sie lädt uns ein, uns zu unterbrechen und Mut zu fassen, uns abseits von Rollenzuschreibungen zu begegnen.

Wir kennen die Geschichte, zugleich dürfen wir sie immer wieder neu entdecken. Wagen wir es, der Einladung zu folgen, ist Weihnachten weit mehr als eine Geschichte. Sie wirkt über die Weihnachtszeit hinaus in unsere Wirklichkeit hinein. Sie verwandelt die Zwischenräume unserer Zeit in Räume wahrer Begegnung, der Geborgenheit und Freiheit zur Entfaltung der Mitmenschlichkeit. Wir können als Einzelne vielleicht nicht kompensieren, was gesellschaftliche oder weltpolitische Aufgaben sind. Aber wir können der Menschlichkeit immer wieder die Tür öffnen.