Was sind die wichtigsten Elemente der Lehre von Valdes?
Die Beantwortung dieser Frage ist alles andere als einfach. Denn die uns vorliegenden Informationen über den Mann, der das Fundament der Waldenser Bewegung legte, sind äusserst begrenzt, indirekt und beziehen sich lediglich auf einige wenige Momente seines Daseins. Es gibt keine Schriften von seiner Hand, mit denen er sein religiöses Denken weitergegeben hat. Nur in einem einzigen Dokument - Professio fidei et propositum vitae - ist seine Stimme zu vernehmen. Die Lehre der Bewegung lässt sich jedoch durchaus ergründen, obgleich die Quellen zumeist vernichtet und die religiösen Ansichten der Waldenser hauptsächlich durch die Perspektive ihrer Gegner überliefert wurden.
Was lässt sich darin erkennen?
Die Analyse von Traktaten, Liturgien, Predigten sowie erbaulichen oder lehrhaften Texten der Waldenser, welche heute in verschiedenen Bibliotheken Europas verstreut sind, offenbart einen bemerkenswert strengen Biblizismus. Die Bibel wurde zu Predigtzwecken in die Volkssprache übersetzt, wobei sich die Gläubigen grosse Teile aneigneten, die sie auswendig konnten.
Welche Texte waren besonders wichtig?
Die Bergpredigt diente den «Armen Christi» als Richtschnur für ihr Leben. Dementsprechend lehnten sie die sogenannten «Menschensätze», das heisst alles, was nicht biblisch begründet war, entschieden ab, wie beispielsweise Fegefeuer, Reliquien, Totenmessen, päpstliche Ablässe, Fürbitten für Verstorbene, Marien- und Heiligenverehrung, Eid und Schwur. Sie tauften und feierten Abendmahl mit Brot und Wein, das sie allerdings als Gedächtnismahl verstanden. Im Abendmahlverständnis standen sie also Zwingli näher als Luther. Die Beichte wurde zum wichtigen Bindeglied innerhalb der Gemeinschaft. Besonders in der Frühzeit der Waldenserbewegung spielten die Frauen eine bedeutende Rolle, nicht nur als Anhängerinnen, sondern auch in geistlichen Funktionen, als Predigerinnen, Lehrende, Spenderinnen der Eucharistie sowie Beichtigerinnen und auch in diakonischen Diensten. Insofern waren die Waldenserinnen in den Augen der Inquisition in doppeltem Sinn der Häresie verdächtigt und wurden oft der Hexerei bezichtigt. Das Lehrgedicht La nobla leyczon (Die edle Unterweisung), im Grunde ein Volks- und Sittenkatechismus, stellt das bedeutendste Werk des waldensischen Schrifttums dar).
Was unterscheidet die Waldenser von den reformierten Kirchen, die dann vor gut 500 Jahren entstanden?
Die Reformation des 16. Jahrhunderts hatte eine grundlegende Veränderung der religiösen Szene in Europa zur Folge, die sich bis in die abgelegenen Cortischen Alpentäler erstreckte. Um sich über die Neuerungen zu informieren, schickten die Waldenser 1530 zwei Wanderprediger mit einem Fragebogen zunächst zu Guillaume Forel nach Neuenburg und dann zu Bertold Haller nach Bern. Sie besuchten Johannes Oekolampad in Basel und schliesslich Martin Bucer in Strassburg, um sich über deren Theologie zu informieren. Das biblisch-theologische Gespräch mit den schweizerischen und elsässischen Reformatoren weckte bei den Waldensern ein lebhaftes Interesse an den reformatorischen Ideen.
Beim Interesse blieb es nicht, die Waldenser bekannten sich zum Protestantismus. Wie kam es dazu?
Um eine Entscheidung in der schwerwiegenden Frage herbeizuführen, wurde im Sommer 1532 das jährliche Consilium Generale der Wanderprediger, das einzige Leitungsgremium der Waldenser, einberufen. Es fand vom 12. bis 18. September 1532 in Chanforan (Angrogna-Tal in den Cottischen Alpen) statt. Die Versammlung formulierte eine «Erklärung», die weitreichende ethische und theologische Neuerungen enthielt, und beschloss, sich der Reformation reformierter Prägung anzuschliessen. Ein weiterer wichtiger Beschluss war die Übersetzung der Bibel aus den Ursprachen ins Französische, mit der Robert Olivétan, ein Vetter Calvins, beauftragt wurde. Die Waldenser finanzierten die Übersetzungs- und Druckkosten dieser Ausgabe, die 1535 erschien. Der Widerstand konservativer Kreise gegen die Beschlüsse von Chanforan soll beträchtlich gewesen sein. Ein neues Conciulium Generale, das 1533 in Prali (Val Germanasca) stattfand, bestätigte jedoch die Beschlüsse von Chanforan. Damit wurde ein unumkehrbarer Prozess in Gang gesetzt, der eine ganze Generation dauerte, bis sich um 1560 die mittelalterliche Untergrundbewegung in eine reformierte Kirche umwandelte.
Damit hatte die Kirche jene Gestalt, die sie bis heute ausmacht?
Ja. Seither ist die Waldenserkirche eine kleine Minderheitskirche, die trotz ihrer extremen Diasporasituation das kirchliche Leben wie jede andere reformierte Kirche gestaltet – natürlich mit allen spannenden Licht- und Schattenseiten. In theologischer, kirchenrechtlicher, liturgischer, diakonischer Hinsicht besteht im Grunde kein Unterschied zwischen der Waldenserkirche und den grossen reformierten Kirchen der Schweiz, der Niederlande, Deutschlands und Schottlands. Sie wird als Ausdruck des reformierten Glaubens und des daraus resultierenden sozialen Engagements für Gerechtigkeit, Frieden, Religionsfreiheit und Recht für religiöse und kulturelle Minderheiten in verschiedenen Kontexten Italiens wahrgenommen. In der Ökumene wird die Waldenserkirche mater reformationis, Mutter der Reformation, genannt. Als Historiker erlaube ich mir die Bemerkung, dass ich dem Begriff kritisch gegenüberstehe. Es ist wenig plausibel von einer Reformation zu sprechen, die historisch noch gar nicht stattgefunden hat. Und dass der Ketzername «Waldenser» heute als Ehrentitel gilt, macht die Sache nicht besser.
Im Waldenserbekenntniss von 1557 finden die protestantischen Strömungen zusammen. Wie kam es dazu?
Innerhalb der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen haben die Waldenser die grösste Anzahl von Bekenntnisschriften, die jeweils auf eine der erlittenen Verfolgungen zurückgehen. Das Bekenntnis von 1557 ist jedoch das merkwürdigste wegen ihrer Entstehungsgeschichte. Im Frühjahr 1557, auf Geheiss des Königs Heinrich II., verlangte der Turiner Gerichtshof von den Waldensern, die unter französischer Herrschaft standen, ultimativ die Konversion und die Auslieferung der Pfarrer. Theodore de Bèze und Guillaume Farel suchten unverzüglich Hilfe bei den Glaubensverwandten in der Eidgenossenschaft und in Süddeutschland. Im April erhielten sie, mit der Unterstützung von Bullinger, vom Zürcher Rat und von den in Aarau versammelten Abgeordneten der reformierten Städte die Zusage, eine Bittgesandtschaft an den französischen Hof zu schicken.
Die Waldenser konnten also auf ihre Verbündeten zählen?
Die beiden Theologen Bèze und Farel wurden in den reformierten Schweizer Städten zwar freundlich aufgenommen. Bei ihrer Einreise nach Deutschland mussten sie jedoch feststellen, dass die Abendmahlslehre, der zentrale Zankpunkt zwischen Reformierten und Lutheranern, ein Hindernis für jegliche Gespräche darstellte. Das heikle Thema wurde ebenfalls am Hof des lutherischen Herzogs Christoph von Württemberg erörtert, der die beiden Gesandten um schriftliche Notizen zum Abendmahlsverständnis der Waldenser bat. Bèze hätte sich mit der Antwort begnügen können, dass die Waldenser das Glaubensbekenntnis der helvetischen Kirchen teilten, wie es im Consensus Tigurinus zum Ausdruck kommt. Stattdessen verfasste er eine Erklärung zum eucharistischen Glauben der Waldenser, die er dem Herzog am 14. Mai 1557 überreichte. Dies Schrift trägt den Titel Confessio de Coena und ist auch unter dem Namen «Göppinger Bekenntnis» bekannt, da das Treffen in Göppingen stattfand.
Mit welcher Autorität definierte Theodore de Bèze das Abendmahlverständnis der Waldenser?
Die Entscheidung des Theologen und Dichters Bèze erfolgte spontan und ohne vorherige Rücksprache mit seinem älteren Kollegen Farel, der den Text jedoch mit seiner Unterschrift autorisierte. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist, dass das Dokument im Namen der schweizerischen und französischsprachigen reformierten Kirchen vorgelegt wurde, ohne das Wissen der Kollegen oder gar der Waldenser. Der Text umfasst sechs Artikel, die durch eine gewisse Ambivalenz und Unbestimmtheit gekennzeichnet sind. Im ersten Artikel wird ausgeführt, dass das Heil nicht durch die Wirksamkeit der Wohltaten Christi, sondern durch die «Empfangnahme Christi selbst, d. h. seiner eigenen Substanz» erlangt werden kann. Die Verwendung des Begriffs substantia, einer der Säulen der mittelalterlichen Eucharistielehre, am Vorabend des Wormser Religionskolloquiums von 1557 zwischen Katholiken, Lutheranern, Zwinglianern und Calvinisten, war offensichtlich wenig förderlich für die Debatte, da sie diese eher verkomplizierte, statt sie zu klären.
Was dann auch prompt geschah?
Genau. Als Bèze und Farel in die Schweiz zurückkehrten, berichteten sie ausführlich über die Mission, schwiegen aber über das «Glaubensbekenntnis», das sie für ein kurzlebiges dialektisches Mittel hielten. Die Lutheraner hingegen verloren keine Zeit, es im ganzen Reich zu verbreiten und stellten es wie eine Siegestrophäe über die helvetischen «Sakramentarier» und ihre waldensischen Schützlinge zur Schau. Bullinger äusserte in einem umfassenden Gutachten seine theologische Ablehnung des Dokuments und bestritt auch dessen politischen Nutzen. Peter Martyr Vermigli, der gute Exeget, der er war, tadelte den zweideutigen Gebrauch des grundlegenden Verbs repraesentare, nämlich ob die Sakramente die Wirklichkeit «vergegenwärtigen», wie die Lutheraner meinen, oder «bezeichnen», wie die Reformierten behaupten. Calvin versuchte in der für ihn ungewöhnlichen Rolle des Vermittlers zu verhindern, dass diese unglückliche Episode in einen Streit ausartete, der zum Scheitern des Zürcher Abendmahlseinigung führte. Die Spannungen, die durch Bèzes Fehltritt entstanden waren, legten sich schliesslich im Oktober 1557, nach dem Scheitern des Wormser Religionsgesprächs, an dem Bullinger aus Protest nicht teilgenommen hatte. Das gleiche Schicksal ereilte die kurzlebige Confessio de Coena, die weder von den Schweizer Reformierten noch von den Waldensern anerkannt wurde und bald zu einem nur noch wenigen Spezialisten bekannten Relikt der Vergangenheit wurde.
Und wie war ihre kirchengeschichtliche Wirkung?
Als sich die Waldenser drei Jahre später in der finsteren Lage befanden, dem alten und neuen Herrscher Herzog Emanuele Filiberto von Savoyen ein Glaubensbekenntnis zur Verteidigung ihrer Sache vorlegen zu müssen, wussten sie genau, was sie als Reformierte zu sagen hatten: «Wir glauben, dass Gott in Taufe und Abendmahl wirklich alles schenkt und vollendet, was er uns darin zeigt.» In theologiegeschichtlicher Betrachtung ist von Interesse, dass der Satz in gewisser Nähe zu den Formulierungen der Leuenberger Konkordie zwischen reformierten und lutherischen Kirchen von 1973 steht, wo es heisst: «Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheissendes Wort in Brot und Wein.»
War die Zürcher Reformation von den Waldensern beeinflusst oder zumindest inspiriert?
Als Herausgeber der «Zürcher Kirchenordnungen von 1520 bis 1675» bin ich fest überzeugt, dass die Unterstützung der Waldenser in den schwierigen Zeiten ihrer Geschichte für die Zürcher Kirche mindestens von Heinrich Bullinger bis Anton Klinger (1649–1713) eine Herzensangelegenheit war. War beim jungen Bullinger noch eine kleine Skepsis gegenüber der vorreformatorischen Vergangenheit der Waldenser spürbar, so nahm die Zürcher Kirche durch Calvins Fürbitte bei Bullinger für die bedrängten Glaubensgenossen in den Cottischen Tälern regen Anteil am Schicksal der Waldenser. Ein Zitat dürfte als exemplarischer Beleg genügen. Zum Neujahr 1688 predigte Antistes Anton Klinger: «Ohne Weinen, Heulen und Klagen kann ich nicht an das fatale Jahr1686 denken […], in dem die so uralte piemontesische Kirche, die an die 800 Jahren bestanden und die reine evangelische Lehre gelehrt hat, den schwarzen Trauerrock anziehen und ein klägliches Valet und Sterbestündlein nehmen musste».
Die Waldenser waren ursprünglich eine soziale Bewegung, das soziale Engagement ist auch heute ein wichtiges Anliegen der Waldenser Kirche.
Im August 2023 besuchte Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella die Waldenserkirche in Torre Pellice, dem Hauptzentrum der Waldensertäler, anlässlich der Einweihung einer Gedenktafel zu Ehren von Altiero Spinelli, Politiker und Vordenker des europäischen Föderalismus. Die Moderatora (Kirchenratspräsidentin) der Waldenserkirche begrüsste ihn mit den Worten: «Der Besuch von Staatspräsident Mattarella ist eine grosse Ehre für eine Kirche, die seit jeher einen im Licht des Evangeliums gelebten Glauben mit einem leidenschaftlichen bürgerschaftlichen Engagement verbindet». Der Satz enthält eine deutliche Anspielung auf das Wappen der Waldenser, das einen Leuchter und sieben Sterne mit der Umschrift Lux lucet in tenebris (Das Licht leuchtet in der Finsternis) zeigt. Es ist ein einfaches und zugleich zutiefst einprägendes Symbol einer Kirche, die glücklicherweise nicht ständig nach einem neuen Logo suchen muss. Dieser Satz ist zugleich eine treffende Beschreibung der Waldenserkirche heute in Italien und am Rio de la Plata (Argentinien und Uruguay). Obwohl zahlenmäßig klein, ist sie eine Glaubensgemeinschaft, die in hohem Maße in die Gesellschaft ausstrahlt und sich aktiv in sozialen Brennpunkten engagiert.
Und das war schon immer so?
Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Adverb «heute», das sich auf die vergangenen 80 Jahre bezieht. Während der intensiven Quellenstudien zur Vorbereitung der neuen «Storia dei Valdesi» mussten die jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an dem monumentalen Werk leider feststellen, dass sich nicht immer Belege für die genannten Eigenschaften finden lassen, die den Waldenserinnen und Waldensern der zweiten Nachkriegszeit lieb geworden sind und die auch in Denkmälern, Bildern, Filmen, Fernsehserien und Büchern gefeiert werden. Die Geschichte der Waldenser kann mit einer Karstquelle verglichen werden, die eine Zeitlang versickert und dann wieder auftaucht. Das Bild der Karstquelle ist präziser als das eines breiten Flusses, der majestätisch ins Meer mündet. Allerdings mit einer Ausnahme. Von der Armutsbewegung des 12. Jahrhunderts bis zu den «humanitären Korridoren» des 21. Jahrhunderts, die die Waldenser seit vielen Jahren in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche Italiens betreiben, gibt es eine Kontinuität: das Engagement für die Bedürftigen.
Dieser Einsatz wird italienischen Öffentlichkeit durchaus wahrgenommen.
Für eine Bewegung, die einen so langen und beschwerlichen Weg hinter sich hat, ist das eine beachtliche Bilanz. Auch wenn 850 Jahre nach ihrer Entstehung die Absichten der Vorsehung für diesen bescheidenen Teil des Leibes Christi immer noch unklar sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als in Dankbarkeit zu wiederholen: « O Herr, du hast Wunder vollbracht, hast Rat gegeben, seit langem schon, wahr und wahrhaftig» (Jesaja 25,1).