Auf Adlers Flügel durch die Trauer hindurch

Schicksal

Ein Jahr nach dem Tod der 18-jährigen Radrennfahrerin Muriel Furrer erzählt ihre Mutter, wie sie mit dem Verlust lebt – und wie der Glaube der Familie hilft, Hoffnung zu finden.

Durch Fridies Cafi-Bar in Uetikon am See zieht an diesem Dienstag ein Duft von Zitronentarte, Linzertorte und Brownies. Zwischen den Auslagen sitzt Christine Brand Furrer am Tisch, den sie schon mit ihrer Tochter Muriel teilte. «Hier sass sie auch oft nach dem Training mit ihren Kolleginnen», erzählt sie. Muriel liebte den Cappuccino und die heiteren Gespräche, dazu ein Stück Kuchen. Wenn ihre Mutter heute dasselbe bestellt, sei es, als sässe ihre Tochter ihr gegenüber.

Muriel Furrer war 18 Jahre alt, als sie am 26. September 2024 an der Rad-WM in Zürich beim Juniorinnenrennen schwer stürzte und am Tag darauf den Verletzungen erlag. Sie galt als Hoffnung des Schweizer Radsports. Ihr Tod schockierte die Szene und berührte weit über den Sport hinaus. 

Blumen, Engel und Kerzen

Im Haus der Familie ist Muriels Platz am Tisch gedeckt, eine Kerze brennt neben Fotos. Ihr Zimmer ist unverändert, ein Raum zum Trauern. Auch das Grab auf dem Friedhof in Egg ist für die Angehörigen ein wichtiger Ort, um Muriel nahe zu sein: ein schlichtes Holzkreuz mit Blumen, Engeln und Kerzen. 

Die Familie Furrer verdrängt den Schmerz nicht, sondern lässt ihn Teil des Lebens sein. Schon bald nach dem Unfall kehrten alle zur Routine zurück: Arbeit, Studium, Hobbys. Der Alltag helfe, die Trauer zu bewältigen, sagt Christine Brand Furrer. Sie arbeitet wieder, singt im Chor, trifft Freunde. 

Diese Strukturen hätten ihnen geholfen. Dennoch gebe es Wunden, die nicht heilen, und an manchen Tagen werde es besonders schwierig – Geburtstage, Ostern, Pfingsten. «Dann fehlt Muriel besonders.» Dass sie nach dem Sturz lange nicht gefunden wurde, beschäftigt ihre Mutter bis heute. Irgendwann habe sie jedoch gelernt, Frieden zu finden und mit den offenen Fragen zu leben. «Ich habe aufgehört zu fragen, warum», hält sie fest. «Gott, Dein Wille geschehe, aber nun musst Du mir helfen!»

Ein Glaube, der trägt 

Muriel strahlte Licht aus, wenn sie den Raum betrat. «Sie sprach offen über ihren Glauben und wollte, dass möglichst viele Menschen in den Himmel finden», sagt Christine Brand Furrer. Als Kind wuchs Muriel mit Gebeten und biblischen Geschichten auf und besuchte den reformierten Unterricht. «Irgendwann hat sie mich im Glauben überholt.» 

Muriel fand Anschluss bei einer christlichen Sportlergruppe, die vor Wettkämpfen betete. Vor einem Rennen sagte sie zu ihrer Mutter: «Das grösste Geschenk ist das Leben im Himmel» – ein Satz, der ihr rückblickend wie eine Vorahnung vorkomme. Ihren sportlichen Erfolg habe sie nicht sich selbst zugeschrieben, sondern Jesus.

Jedes Podest, jede Medaille gebührte ihm.  Ihr liebster Vers aus dem Buch Jesaja stand später auf der Todesanzeige: «Die auf den Herrn hoffen, gewinnen neue Kraft; sie fahren auf mit Flügeln wie Adler. Sie gehen und werden nicht müde, sie laufen und sind nicht erschöpft.» (Jes 40,31) «Dieser Vers hat sie getragen», sagt Christine Brand Furrer. «Und er trägt jetzt mich.» 

Muriel las die Bibel, führte Tagebuch und reflektierte, wie sie das Gelesene leben konnte. Nach Muriels Tod begann die Mutter, jeden Tag in der Bibel zu lesen – mit einer App, die auch die Tochter genutzt hatte. Manchmal spricht sie dabei mit Muriel. «Ich frage sie: Was meinst du dazu?» 

Das Lesen ist für sie zu einem Zwiegespräch geworden, einer Verbindung, die Grenzen überwindet. Sie fühlt sich in der Trauer nicht allein. «Jesus richtet mich auf», sagt sie. «Wenn ich am Boden war, hat er mir Menschen geschickt.» Familie, Freundinnen, der Chor, Pfarrer Matthias Stäubli. Die Kirchgemeinde Egg brachte Geschenke, bot Gespräche an, und als sich der Todestag jährte, standen wieder Blumen vor der Tür. «Wir waren überwältigt, wie viel Liebe uns erreicht hat.» 

Bewegung und Musik 

Auch der Körper selbst helfe beim Trauern. Muriel liebte Bewegung, und ihre Mutter findet darin heute Halt: «Wenn sich der Körper bewegt, wird auch die Seele leichter.» Sie spaziert am Seeufer, joggt auf den Pfannenstiel. Und unternimmt Wanderungen in den Alpen. «Dort oben, auf 3000 Metern, fühle ich mich Muriel nah. Die Weite und Stille tun gut. Ich spüre: Sie ist bei uns.» Eine weitere Brücke sei die Musik.

Derzeit singt Christine Brand Furrer bei Mozarts Requiem im Chor mit – «dieses Werk verbindet mit dem Himmel».  Zur Verarbeitung des Verlusts gehörte für die Familie auch, den Unfallort zu besuchen. «Es war schwer, aber es hat uns geholfen», berichtet die Mutter. Die Konfrontation sei wichtig gewesen, um das Geschehene anzunehmen.

 Besonders stark trägt das enge Netz, das die Kinder bilden. Neben Muriel haben die Eltern noch eine Tochter und zwei Söhne. «Sie sind unsere grösste Motivation», sagt Christine Brand Furrer. Von Anfang an hätten sie gewusst, dass sie nicht jahrelang die trauernden Eltern bleiben wollten. «Wir halten zusammen, wir lachen wieder, wir leben weiter.» 

Verbunden im Schmerz

 Im Laufe des Jahres traf die Mutter andere Eltern, die ein Kind verloren haben, 13 Familien zählt sie in ihrem Umfeld. Der Austausch helfe. «Es macht bewusst, wie viele junge Menschen sterben, auch wenn wir das gerne verdrängen.»  Draussen vor dem Café zieht die Herbstsonne über die Bäume. Christine Brand Furrer nimmt den letzten Schluck Cappuccino. Muriel hatte einmal zu ihr gesagt: «Du hast mich in den Himmel gebracht.» Damit meinte sie den Glauben, den die Mutter ihr vorgelebt hatte. Diese sagt nun: «Müri ist vorausgegangen dorthin, wo wir alle einmal hinkommen wollen. Ich weiss, dass sie bei Jesus ist.» Diese Hoffnung gebe Kraft. Sandra Hohendahl-Tesch