«Berghain», ein mit musikalischer Komplexität überzeugender Song, befasst sich mit Hildegard von Bingen. Ins Zentrum stellt die Sängerin das Erleuchtungserlebnis der deutschen Mystikerin. Mit ihrem Album habe auch sie selbst «Gott näherkommen wollen», sagte Rosalía in einem Interview. Einen Gastauftritt hat in «Berghain» mit Björk jene Popikone, der es in der Zeit bis zur Jahrtausendwende einst gelungen ist, mit der Trilogie «Post», «Homogenic» und «Vespertine» sich stets neu zu erfinden und zugleich ganz bei sich zu bleiben.
Rebellion und Exodus
Das Album ist in vier Akte unterteilt und orientiert sich damit am Verfahren, das in der katholischen Kirche zur Heiligsprechung führt. Die meistens nur angedeuteten Erzählungen verhandeln neben der Transzendenz häufig den Willen zur Freiheit. So liegt dem zwischen symphonischer Zartheit und hypernervöser Verfremdung oszillierenden «Focu ’ranni» die Legende der Eremitin Rosalia von Palermo zugrunde, die vor der eigenen Hochzeit geflohen war. Auch Mirjam aus dem Alten Testament, die sie in «Novia Robot» besingt, versteht Rosalía als eine «Prophetin, die ein Volk führte und sehr rebellisch war».
Anders als andere Kunstschaffende bedient sich Rosalía nicht nur aus ästhetischer oder kulturhistorischer Perspektive bei der liturgischen Opulenz und der dramatischen Ikonografie des Katholizismus, auch verwendet sie die religiöse Symbolik ganz ohne ironische Distanz. Stattdessen sind ihre Songs ein Ausdruck ihrer gelebten Spiritualität. Der Glaube an Gott gebe ihr das Gefühl, «beschützt und geführt» zu sein, sagt Rosalía. Jeden Abend betet sie das Unservater.
Wie ein Schwamm
Gute Popmusik ist ein bisschen wie ein Schwamm. Sie saugt politische Debatten, ästhetische Trends und gesellschaftliche Stimmungen auf, ist gesättigt mit Zitaten und Verweisen. Deshalb erinnert Rosalía in «De madrugá», in dem ihre musikalischen Wurzeln beim Flamenco anklingen, an Olga von Kiew, die in der orthodoxen Kirche als Heilige gilt. Sie soll die Mörder ihres Mannes gerächt haben. Und das sich von der tänzerischen Leichtigkeit in eine dramatische Dynamik steigernde «La yugular» ist der islamischen Mystikerin Rabi’a al-’Adawiyya gewidmet, die als «Mutter des Sufismus» gilt. Eingefügt hat Rosalía das Koranzitat, Gott sei dem Menschen näher als die Halsschlagader.
Trotz der konzeptuellen Ambition überzeugt das Album durchaus mit emotionalen Momenten. Und vor allem reduziert Rosalía die Heiligenlegenden auf ihren zeitlosen Kern: Sie erzählen von der Hingabe an Gott, einer Sehnsucht nach Erkenntnis, von der Liebe zur Welt. Und immer wieder geht es um das Aufbegehren gegen die herrschenden patriarchalen Verhältnisse, um Aussenseitertum, Mut und Selbstbestimmung. Und die Frage, was dem Menschen heilig ist.
Rosalía: Lux. Epic/Sony 2025