Das traumwandlerische Manifest der Freiheit

Kultur

Die türkische Sängerin Gaye Su Akyol verbindet Istanbuls pulsierenden Rhythmus mit der anatolischen Musiktradition. Ihre Unbeugsamkeit lehrt Machthaber Erdogan das Fürchten.

Sie ist ganz bei sich und interagiert dennoch in jedem Moment mit dem Publikum. Gaye Su Akyol steht an einem Freitag im April auf der Bühne des Zürcher Musikclubs Moods. Das ausverkaufte Konzert ist ein Heimspiel. Spricht Akyol zwischen den Songs englisch, bleiben die Reaktionen aus, wechselt sie ins Türkische, ist das Publikum sofort da.

Und sie spricht viel. Mit feinem Witz erzählt sie die Entstehungsgeschichten ihrer Lieder und wird immer wieder unverhofft politisch. Und politisch sind die Songs, weil sie von der Freiheit handeln. Der Freiheit in ihrer existenziellen Dimension: in der Kunst, in der Liebe.

Albtraum als Auszeichnung

Von der britischen Zeitung «Financial Times» wurde Gaye Su Akyol einmal als «Erdogans schlimmster Albtraum» beschrieben. Es war als Auszeichnung gemeint. Sie gilt als wichtige Stimme für die türkische LGBTQI+-Community. Und vor zehn Jahren beteiligte sich die 1985 geborene Musikerin an den Gezi-Protesten. Die Demonstrationen gegen ein Bauprojekt, dem in Istanbul ein zentraler Park weichen sollte, weiteten sich nach brutalen Polizeieinsätzen zur landesweiten Protestwelle gegen die Repression von Präsident Recep Tayyip Erdogan aus. 

Der Präsident ist 20 Jahre an der Macht. Am 14. Mai stellt er sich erneut zur Wahl. Gaye Su Akyol macht in Zürich mehrfach klar, was sie davon hält: gar nichts. Deshalb ruft sie die Wichtigkeit der Wahlen in Erinnerung, bei denen Erdogan mit Kemal Kilicdaroglu zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ein ernsthafter Gegner erwachsen ist, da sich die bunte Opposition zusammenraufen konnte, statt sich zu zersplittern.

Volksmusik und Surf-Rock

Vor politischer Pädagogik bleibt Gaye Su Akyol trotz ihres mutigen Engagements gefeit. Ihre Kunst genügt sich selbst. Und doch blitzen in den intimen Songs metaphorische Zustandsbeschreibungen ihrer Heimat auf, etwa im wunderbar verschnörkelten «Bagrimizda Tas», der die Türkei als Shisha-Café beschreibt, in dem die Leute in ihrer Trägheit im Rauch des Konservatismus zu ersticken drohen. 

In ihren Songs schliesst Akyol Elemente der anatolischen Tradition mit Surf-Rock und Grunge kurz. Die Tochter des Malers Muzaffer Akyol ist mit türkischer Volksmusik und Klassik aufgewachsen, in der Jugend gesellten sich Nirvana und Nick Cave dazu. Alle Einflüsse sind in ihrer eigenständigen Mélange bis heute hörbar.

Politische Innerlichkeit

Mit ihrer Musik will Gaye Su Akyol «eine Gegenrealität erschaffen, um das organisierte Böse herauszufordern», wie sie jüngst in einem Interview sagte. Sie glaube an die Macht der Träume. «Wir messen der materiellen Welt zu viel Bedeutung bei und ignorieren die ungeheure Kraft, die in uns steckt.» Eine Aussage, die durchaus spirituell interpretiert werden darf. Jedenfalls findet sie ihr Echo im berührenden Sog der psyche-delisch verträumten und oft dunkel schillernden Lieder.

Im Kontext der autoritären und patriarchalen Machtstrukturen erhält die Innerlichkeit, die Akyols Musik prägt, eine politische Dimension. In den Liebesliedern geht es immer um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung.

Freilich weiss die Sängerin, dass die Autokratie keine Erfindung der Islamisten ist. Deshalb bezieht sie sich immer wieder auf Selda Bagcan. Die Grande Dame der türkischen Volksmusik wurde nach dem Militärputsch 1980 verhaftet.

Schlicht fantastisch

In Zürich gelingt Gaye Su Akyol ein schlicht fantastisches Konzert. Ihre Songs klingen auf der Bühne durch die reduzierte Instrumentierung kompakter und damit noch eine Spur mitreissender als auf ihren vier Studioalben. Und dabei wird jederzeit spürbar, dass ihre Musik zugleich ein traumwandlerisches Manifest der Freiheit ist.

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