Recherche 27. September 2022, von Felix Reich

Frommer Fatalismus und bewegende Musik

Kirchenmusik

Bachs Musik berührt. Die Texte der Kantaten hingegen sind zuweilen sperrig. «Answering Bach» stellt sich unbequemen Fragen.

Es begann mit einem Spaziergang im Januar. Da entwickelten Rebecca Ineichen und Benjamin Graf die Idee, sich der Musik von Johann Sebastian Bach mit Kopf und Herz zu nähern. Das Publikum sollte in den Klängen der Kantate «Die Elenden sollen essen» getrost versinken dürfen.

Zugleich wollten die Kirchenmusikerin und der Theologiestudent den Text auf seine Aktualität befragen. Gemeinsam mit befreundeten Musikerinnen und Musikern erarbeiteten sie «Answering Bach».

Unversöhnlich über den Tod hinaus

Geschrieben wurde der Text zur Kantate 1723 vor dem Hintergrund der verstörend unversöhnlichen Geschichte vom reichen Mann und Lazarus (Lk 16,19–31). Der von Hunger und Krankheit geplagte Lazarus liegt vor der Tür des Reichen und kann nicht einmal Brosamen erhaschen. Die Mauer zwischen Luxus und Armut ist unüberwindbar.

Im Jenseits die verkehrte Welt

«Statt dass Versöhnung möglich würde, ist das Jenseits einfach eine verkehrte Welt», sagt Graf. Im Text der Kantate erkennt er einen «frommen Fatalismus», denn wer leidet wie Lazarus, wird aufs Jenseits vertröstet, was im Sopransolo gipfelt: «Ich nehme mein Leiden mit Freuden auf mich.»

Um herauszufinden, ob der grosse Bach tatsächlich aus der Zeit gefallen oder unbequem aktuell ist, erweitern Graf und Ineichen den Kreis der Solistinnen und Solisten durch Schauspielerinnen und Schauspieler. «Mit den Antworten der Kantate habe ich Mühe, doch ihre Fragen faszinieren mich», sagt Graf.

Die Kantate in der Version von Netherlands Bach Society

Nach dem Tod leidet der weiterhin namenlose Reiche und muss mitansehen, wie Lazarus belohnt wird. Er fleht um Erbarmen, doch über den Tod hinaus bleiben Arm und Reich getrennt.

Über den Text hinaus denken

Die Theaterszenen sollen dem Publikum ermöglichen, selbst Antworten zu suchen auf die aufgeworfenen Fragen: Lässt sich das Unrecht in der Welt beseitigen? Und wird die Mauer zwischen Arm und Reich je eingerissen werden können? Dabei kommen auch moderne Sinnkonzepte in den Blick, die ohne Religion auskommen.

Allerdings lässt Graf im Gespräch keinen Zweifel daran, wo seine Sympathien liegen: «Die christliche Tradition hat mehr zu bieten, als viele Leute denken.»

Versinken und reflektieren

Bachs Musik umkreise das, «was im Leben trägt», sagt Rebecca Ineichen. Sie wolle das Publikum bewegen und könne ein Gefühl der Geborgenheit auslösen. Dennoch ist der Pianistin wichtig, dass die Kantaten nicht einfach heruntergespielt werden. Vielmehr will das Projekt greifbar machen, was Bachs Werk bis heute zu sagen hat.

Aufführungen

«Answering Bach» ist ein Musikprojekt unter der Leitung von Rebecca Ineichen und Benjamin Graf.  Aufgeführt wird das mit Theaterszenen erweiterte Konzert am 7. Oktober um 19 Uhr in der reformierten Kirche Russikon sowie am 8. Oktober um 19.30 Uhr in der Zentralwäscherei in Zürich.

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