Recherche 03. April 2023, von Marius Schären

Musikalisch ist der Mensch ein Gewohnheitstier

Wissenschaft

Musik ist universell die ideale Kunstform, um Feste zu feiern, sagt Musikprofessorin Cristina Urchueguía. Aber: Welche Musik gefällt und was sie auslöst, ist unterschiedlich. 

Zu Ostern geht es weit verbreitet so: Schauder des Wohlseins können die Klänge hervorrufen – wieder und wieder, wenn alljährlich die grossen Passionen hervorgeholt und in Kirchen und Sälen gespielt und gesungen werden. Musik bewegt und berührt die Menschen, egal welchen Hintergrund sie hat.

Nicht egal sind die Gründe, weshalb die österlichen Bach-Passionen gefallen, eher eine laut gebrüllte dunkle Botschaft im Death Metal oder das sphärische Abdriften mit einer Mediationsmusik.

«Der Musikgeschmack hängt in erster Linie von der Sozialisation ab, also davon, wie wir aufwachsen und den Umgang mit Musik erfahren», sagt Cristina Urchueguía, Professorin für historische Musikwissenschaft an der Universität Bern. Bisher sei es grundsätzlich so gewesen, dass höhere gesellschaftliche Schichten ein breiteres Musikspektrum hatten, ganz einfach darum, weil sie Zugang hatten zu verschiedener Musik. Wer hingegen ärmer war, konnte sich das nicht leisten.

Beliebte Berechenbarkeit

«So prägten auch gebildetere Menschen die Ansicht, welche Musik als gut und welche als schlecht gilt», sagt Cristina Urchueguía. Doch wissenschaftlich einordnen lasse sich das so nicht. Solche Einordnungen seien vielmehr ein Ausdruck von Macht. Die Professorin und Pianistin erklärt: «Die grobschlächtige Kategorisierung in gut und schlecht hängt von so vielen Sachen ab. Aber Musik kann man nicht absolut beurteilen.» Hingegen könne die Musikwissenschaft messen und sagen, wie raffiniert Musik ist, wie originell und wie ausdrucksstark. 

Johann Sebastian Bach arbeitet stark mit Wiederholungen und Variationen gleicher Themen.
Cristina Urchueguía, Professorin für Musikwissenschaft

Meistens gefalle Menschen, womit sie schon lange Erfahrung hätten. Die Beobachtung bestätigt auch die Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann unter anderem in einem Interview mit der «Zeit». Unser Gehirn freue sich, wenn es Reize wiedererkennen, einordnen und vorhersagen könne. Cristina Urchueguía unterstreicht diese Aussage aus eigener Erfahrung.

Bach als nahrhafter Eintopf

Die Wissenschaftlerin sieht darin einen Grund, weshalb die Musik von Johann Sebastian Bach derart beliebt ist. «Er arbeitet stark mit Wiederholungen und Variationen gleicher Themen.» Seine Werke seien sehr vielseitig einsetzbar, eingängig, einfach zu verstehen, obwohl sie kunstvoll komponiert seien.

Zudem klingen Bachs Werke sehr ausdrucksvoll. «Wie ein schmackhafter und nahrhafter Eintopf», findet Urchueguía. Dass der Klassiker praktisch zu einem Mythos, einer Marke wurde, hat gemäss der Musikwissenschaftlerin noch weitere Gründe. Er sei als erster Komponist wissenschaftlich in die Musikgeschichte eingeführt worden. Denn Bachgesellschaften habe es bereits im 19. Jahrhundert gegeben. Ausserdem sei die Quellenlage zu seinem Werk ausserordentlich gut.

Musik ist keine universelle Sprache der Gefühle.
Cristina Urchueguía, Professorin für Musikwissenschaft

Nun ist zwar sowohl mit der Klassik als auch mit dem Pop westlich geprägte Musik weltweit zu einem Erfolg geworden. Das hat aber gemäss der Professorin nichts mit der Musik an sich zu tun, sondern sei schlicht auf die Kolonialisierung zurückzuführen. Die Expansion verdankt sie auch der Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen.

«Musik ist keine universelle Sprache der Gefühle», sagt Cristina Urchueguía. So habe sie in verschiedenen Regionen und Kulturen ganz unterschiedliche Bedeutungen und unterschiedliche Repertoires. Und es gebe auch explizit musikfeindliche Gruppierungen wie die Taliban.

Ideal für die Gemeinschaft

Universell ist hingegen, dass Menschen gern mit Musik feiern. Von allen Kunstformen sei sie dafür besonders geeignet, erklärt Urchueguía: «Musik strukturiert die Zeit, alle Menschen vor Ort kommen in den gleichen Rhythmus. Sie fördert das Gemeinschaftsgefühl, indem bestimmte Repertoires oder Stile für bestimmte Bedeutungen stehen.»

Dass einige Instrumente und Stile besonders festlich wirken, habe wiederum mit der Entwicklung in der Geschichte zu tun: Pauken und Trompeten fanden aus der Militärmusik Eingang in die Klassik, die Orgel wurde tragend, weil sie vorab in Kirchen überhaupt zum Einsatz kam. Doch die Musikwelt ist auch für Urchueguía weit: «Für mich ist beispielsweise Queen ebenfalls ein hervorragender Klassiker, Lady Gaga singt wunderbar, Beyoncé und viele andere auch.» Es gebe ganz viel tolle Musik!

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