Die Bänke in der Kathedrale bleiben leer. Im Mittelgang sind die Särge aufgereiht. Der Kirchenchor singt: «We lost God control.» Mit ihrem Song «God Control» und insbesondere mit dem in dramatische Episoden zerhackten Video thematisiert Madonna die in den USA grassierende Waffengewalt und fordert stärkere Kontrollen sowie schlicht eine «vernünftige Gesetzgebung».
Dass Madonna ihr Postulat religiös unterfüttert, ist kein Zufall. In bester Popmanier öffnet sie Assoziationsräume, ohne sich festzulegen. Indem der Genitiv unmarkiert bleibt, schwingt im Titel die «Gun Control» mit, die Gesetzgebung zu Produktion, Handel und Besitz von Waffen. Der Kurzschluss von «God» und «Gun» lässt zudem an die Vergötterung der Waffe denken.
Zuflucht und Korsett
Das Christentum trägt der Popstar nicht nur im Namen. Die Religion zieht sich wie ein roter Faden durch Madonnas Werk. Ob als Mittel zur Provokation oder Zuflucht, als Korsett oder Sehnsuchtsort.
Als sie 1989 im Video zu ihrem Hit «Like a Prayer» den Rassismus im amerikanischen Justizsystem anprangerte und sich die Stigmata Christi zufügte, wurde ihr Blasphemie vorgeworfen. Madonna antwortete, indem sie das Lied ihrer Mutter widmete, die sie «beten gelehrt hat».
Tanz und Bekenntnis
Doppelbödigkeiten gegen die Doppelmoral gehören zum Pop. Und selbst Peinlichkeiten bügelt Madonna aus, indem sie den Tabubruch ironisch bricht wie im grossartigen «Human Nature» (1994). Und en passant entlarvt sie mit ihrem Mix aus Erotik und religiöser Symbolik den Jungfrauenkult als das, was er ist: eine Männerfantasie.
Ihre neue Platte taufte die Verwandlungskünstlerin schlicht «Madame X». Vielleicht schwingt im X das Kreuz mit. Jedenfalls mündet das auf komplexen Beats gebaute, in die Weltmusik ausfransende «Batuka» fern jeder Ironie im «Sing hallelujah, say amen», nachdem es mit der Bitte um Gottes Gnade begonnen hatte. Mit dem Vatikan streitet sich Madonna zwar leidenschaftlich gern. Ihr virtuoses Spiel mit Sünde und Busse, Demut und Pomp verbindet sie jedoch durchaus mit der katholischen Tradition.
Kardinal und Staatsanwalt
Freilich funktioniert das Spiel nur, wenn der Gegner mitspielt. Und er spielt mit. Auf der Tour zum fantastischen Tanzalbum «Confessions on a Dancefloor» (2005) schwebte Madonna an einem Kreuz und setzte sich eine Dornenkrone auf den Kopf.
Prompt forderte ein römischer Kardinal ihre Exkommunikation und beklagte eine «gotteslästerliche Herausforderung des Glaubens» sowie die «Entweihung des Kreuzes». Die Auftritte in Deutschland beobachtete der Staatsanwalt, da er Verstösse gegen den Paragrafen befürchtete, der die «Beschimpfung von Bekenntnissen und Religionsgemeinschaften» verbietet.
Exkommunikation und Nachfolge
Madonna, die in ihrer kabbalistischen Phase steckte und die Hollywood-Version der jüdischen Mystik für sich entdeckt hatte, fühlte sich total missverstanden. Die inszenierte Kreuzigung wolle nicht
provozieren, sondern Menschen dazu bringen, Jesus nachzuahmen. «Seine Botschaft ist, dass man seinen Nächsten wie sich selbst lieben soll, und dass es Leute in Not gibt.»
Sie selbst wolle wie Jesus sein und wie Gandhi, Martin Luther King, John Lennon. «Ausser natürlich, dass ich gern noch ein bisschen leben möchte.» Das mit dem Älterwerden hat schon ganz gut geklappt. Einzig bis zu Ghandi, der 78 Jahre alt wurde, fehlen Madonna noch 17 Jahre.
Disco und Kirchenchor
Jesus zum Vorbild nimmt sich Madonna quasi auch, wenn sie auf ihrem neuen Album in «Killers Who Are Partying» alle Ausgrenzung und allen Schmerz auf sich nehmen will von Afrika bis Israel, von ausgegrenzten Muslimen bis zu verfolgten Homosexuellen. Dem fad arrangierten Stück fehlt leider nicht nur der musikalische Spannungsbogen, der Text überlädt die ohnehin dünne Songidee. Er überschreitet die Grenze, an der Pathos ins Klischee kippt.
«God Control» hat hier eine andere Qualität. Der Discobeat, in den der Wahnsinn der Gewalt einbricht, wird gegengeschnitten mit dem Weckruf des Refrains, der allzu oft erst gehört wird, wenn die Särge in der leeren Kirche stehen.