Ohne Umweg wäre der Weg nicht ganz so weit. Aber nun führt er nach dem zweistündigen Aufstieg von Tinizong (GR) zur falschen Hütte. Zum Glück hat der hilfsbereite Jäger eine Satelliten-App und erklärt den Weg querfeldein zu jener Alphütte, in welcher die als Musikerin Big Zis bekannte Franziska Schläpfer den Sommer verbringt und auf knapp 100 Kühe aufpasst.
Die verbotene Frage
Im Herd knistert das Feuer. Schläpfer kocht Tee. Fiebrig setzt sie sich an den Tisch. In der warmen Hütte erzählt sie auf Umwegen von den Umwegen, die zur Kunst führen. Die geronnene Erfahrung, die Suche bleiben in ihren Texten spürbar. Wie im fantastischen «Hang» von der aktuellen EP «béyond», das von der Einsamkeit in der Betonstadt erzählt und über Musik und Textrhythmus Klaustrophobie und Euphorie zusammenführt. Die Zeilen von Big Zis, die vor bald 20 Jahren ihr Debüt veröffentlichte, sind in wunderbar fliessendes Zürichdeutsch gegossen. Sie erzählen präzise Geschichten und führen doch ins Offene. Sie sind schlicht Poesie.
Irgendwann sagt Schläpfer präventiv, welche Frage sie nervt: Was dachte sie, als sie die Texte schrieb? «Mit der Veröffentlichung gebe ich die Songs frei.» Die Künstlerin interessiert, wie ihre Musik ankommt, welche Bilder sie wachruft. Kunst ist immer auch eine Flaschenpost.
Sie brauche ein Gegenüber, sagt Schläpfer. Sei sie einsam, betrachte sie sich zuweilen von aussen. «Ich will gesehen werden.» So legt sie die Spur zum Auslöser des Besuchs. «Was fehlt, wenn Gott fehlt?» fragte die reformierte Kirche und lancierte einen Wettbewerb. Schläpfer wurde in die Jury berufen. Sie ist konfessionslos glücklich. Gott vermisst sie eigentlich nicht.
Glocken klingen nach Heimat
Auf die Zusammenarbeit mit der Kirche liess sich Schläpfer ein, weil sie keine Berührungsängste kennt. Sie bewege sich in einer christlich geprägten Welt, lerne in Kirchenkreisen oft kluge Leute kennen. «Und ich halte mich gerne in Kirchen auf.» Glocken bedeuten für sie Heimat. Ihre Arbeitsmoral sei protestantisch geprägt. Und vor allem fand sie die Preisfrage spannend. Die Künstlerin interessieren unterschiedliche Antworten, sie hinterfragt, entwickelt Thesen im Dialog.
«Ich stelle mir vor, es hilft gläubigen Menschen, dass Gott sie sieht, selbst wenn kein Mensch sie beachtet.» Ein Stück Freiheit in einer Zeit, in der das Bedürfnis nach Sichtbarkeit Schatten wirft. Für viele sei ein Ereignis erst real, wenn es geteilt, in sozialen Netzwerken von anderen gesehen und bewertet werde. Selbstdarstellung als Lücke, die Gott hinterlässt. Auf Servern sind Lebensereignisse gespeichert, und mit Algorithmen lassen sich aus diesen künftige Bedürfnisse berechnen. Die Vorsehung ist jetzt bei den Internetgiganten statt bei Gott.
Der religiöse Augenblick
Doch es gibt Momente, in denen die Angst vor der Unsichtbarkeit weit weg ist. Alles stimmt, etwas scheint auf, das unverfügbar ist. Schläpfer erzählt von der Quelle, die sie oberhalb der Hütte entdeckt hat. «Ich sass am Wasser und war ganz bei mir, spürte mein Zentrum.» Ein wenig muss sie über das Pathos ihrer Worte lachen. Das mit der Quelle sei ja ein Klischee. «Aber vielleicht war das ein religiöser Augenblick.»
Inzwischen hat der Regen eingesetzt. Bald kommt der erste Schnee. Der Weg ins Tal kennt keinen Umweg, der rote Jeep holpert bergab. Im Kopf unfertige Gedanken. Skizzen, die sich irgendwann zum Bild verdichten. Zum Beispiel, wenn Big Zis einmal darüber rappt, was fehlt, wenn der Glaube fehlt.