Recherche 10. Januar 2019, von Felix Reich

Protestant und Popstar

Kultur

Mit «Tumult» legt Herbert Grönemeyer ein phasenweise fantastisches Album vor. Der Musiker verdankt seinen moralischen Kompass seiner protestantischen Erziehung.

Es dauert zehn Sekunden, und man ist zu Hause. Musikalisch ist Herbert Grönemeyer immer einigermassen auf der Höhe der Zeit. Ob mit sphärischen Beats auf «Bleibt alles anders» oder jetzt, 20 Jahre später mit seinem neuen Album «Tumult». Hier wummert «Doppelherz» gehörig. Grönemeyer liess sich an einer Lesung für den damals inhaftierten Journalisten Deniz Yücel dazu inspirieren, türkisch zu singen. Und dennoch sorgen die Pressluftstimme und die Stakkatotexte zwischen Poesie und Phrase, Lebensweisheit und Allgemeinplatz dafür, dass jeder Ton und jede Zeile irgendwie vertraut klingen.

Herbert Grönemeyer gehört zu den erfolgreichsten Popstars in Deutschland. Seine Konzerte sind auch in der Schweiz ein Fest. Und Grönemeyer ist ein Moralist. Wandte er sich 1993, als im wiedervereinigten Deutschland Asyl­heime brannten, mit «Die Härte» kämpferisch gegen rechts, warnt er nun in «Fall der Fälle» vor dem Hass, der in die Mitte sickert: «Es bräunt die Wut», lautet die Diagnose, «keinen Millimeter nach rechts», die Devise.

Reformierte Nächstenliebe

Woher er seinen moralischen Kompass hat, verriet Grönemeyer in ­einem viel beachteten Interview 2007: «Ich bin calvinistisch-protestantisch erzogen worden und glaube an Gott.» Sich für fairen Welthandel und gegen die weltweite Armut zu engagieren, sei «eine Frage der Nächstenliebe» und gehöre «zum humanistischen Geist dazu».

Grönemeyer rät, dass sich jeder Mensch ein moralisches System schafft, «an dem er sich misst». In der Kindheit war der Musiker, der 1956 in Göttingen geboren wurde, «ein relativ strikter Kirchgänger». Der Vater war Bergwerksdirektor, wäre aber «am liebsten Pfarrer geworden», wie Grönemeyer einmal sagte.

Maximal anschlussfähig

Eine tiefe Krise durchlebte Grönemeyer 1998, als sein Bruder an Leukämie starb und seine Frau in der gleichen Woche den Kampf gegen den Krebs endgültig verlor.

Vier Jahre später meldete sich Grönemeyer mit «Mensch» zurück. Die Platte brach alle Verkaufsrekorde. «Und der Mensch heisst Mensch, weil er irrt und weil er kämpft, und weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt»: Das Titellied mit der für Grönemeyer typischen maximal anschlussfähigen Spiritualität wurde auch an der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands gespielt. Der damalige Ratsvorsitzende Manfred Kock wünschte dem calvinis­tischen Popstar in einem persön­lichen Brief Gottes Segen für die anstehende Tournee.

Vertraute Langeweile

Mit «Tumult» gelingt Herbert Grönemeyer erneut ein in der Aktualität ankerndes Album, obwohl es musikalisch zuweilen seltsam unentschlossen wirkt. So überzeugen tanzbare Stücke wie «Doppelherz» und insbesondere der fantastische Remix von «Leichtsinn und Liebe», während in den selten inspiriert klingenden Balladen das Vertraute in Langeweile kippt.

Herbert Grönemeyer: Doppelherz

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