Frühjahrsputz im Zimmer des Glaubens

Musik

Die Einstürzenden Neubauten spielten mit «Alles in Allem» eine fantastische Platte ein. Im Ringen mit der Religion werden spirituelle Spuren hörbar, die ihr Werk durchziehen.

Den Herrgottswinkel hat er leer geräumt. Von einer «offenen Weite» träumt Sänger Blixa Bargeld (61), «nichts von heilig». Doch er renoviert nun nicht mehr für sich selbst, sondern für seine kleine Tochter. Mitbringen dürfe sie alles, nur «um Himmels willen: keinen Gott!»

Begehbare Räume

Der Song «Möbliertes Lied» basiert auf einer Wortimprovisation und ist das erste Stück, an dem die Einstürzenden Neubauten gearbeitet haben, als sie das Mitte Mai veröffentliche Album «Alles in Allem» in Angriff nahmen. Das Lied steht exemplarisch für ihr Gesamtwerk. Denn die Einstürzenden Neubauten erschaffen hörbare Räume, die es immer wieder neu zu entdekcken gilt.

Vor 40 Jahren hatte die Formation unter einer Berliner Autobahnbrücke auf einer alten Waschmaschine und einem Stahlschlagzeug ihr erstes Stück «Für den Untergang» eingespielt und war danach zu einer international stilbildenden Band aufgestiegen. Ihre Instrumente fand sie auf dem Schrottplatz. Der mit dem Presslufthammer getaktete, nach Bunker klingende Gross­stadt-Nihilismus der Frühzeit wurde bald vom Durchzug der Poesie abgelöst. Er schmeckt salzig und nach Aufbruch. Berlin ist spätestens auf dem aktuellen Album zur Utopie, zum Nichtort geworden.

Begehbar wurde der luftige Raum auf dem fantastischen «Perpetuum Mobile» (2004), als die Musiker die Musikalität von Luftdruckpumpen erforschten. Bargeld entdeckte das aus der Zeit fallende Glück am Meer («Paradiesseits») und fand mitten in der Stadt ein wunderbares Bild für den Einbruch der Erinnerung: In «Dead Friends (Around the Corner)» liegt das Jenseits um die Ecke.

Das wandelbarste Element

Eine beinahe klösterliche Idyl­le beschreibt Bargeld im herrlichen «Nagorny Karabach» vom Nachfolger «Alles wieder offen» (2007): «Zwischen Himmeln eingeklemmt, in der Enklave meiner Wahl.»

Eröffnet wird dieses zeitlose Album programmatisch mit «Die Wellen». Das Wasser ist der «Idealparkour zum Wandeln für den Sohn des Zimmermanns». Dem endlosen Rauschen der Brandung lauscht Blixa Bargeld «die famosen, fünfen, letzten Worte» des «Nazareners» ab: «Warum hast du mich verlassen?» (Psalm 22,2). Auf seinem verlorenen Posten brüllt er «jede Welle einzeln» an: «Bleibst du jetzt hier?»

Der verwaiste Christus

Mit der Schweizer Band Kiku inszenierte Bargeld später einen literarischen Text, der in der Negation neu zu Gott findet, als faszinierendes Klangspektakel: Die «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei», von Jean Paul (1763–1825) bildet die Vorlage zu «Eng, düster und bang» (2017). 

Das «Blumenstück» aus Pauls «Sie­benkäs»­Roman zeichnet den Hor­ror eines Universums ohne Gott, in dem «kalte, ewige Notwendigkeit» und «wahnsinniger Zufall» regie­ren. Die Rede des verwaisten Chris­tus soll die Leser erschüttern und von jenen Glaubenskrisen heilen, in denen das «Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, dass in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären».

Die Bibel lässt ihn nicht los

Geheilt werden will Bargeld freilich nicht. Er kommt ganz gut zurecht mit dem leer geräumten Herrgottswinkel. Vermutlich ist nicht die bei ihm anklingende, mit Gott ringende Religionskritik das Gegenteil von Glaube, sondern ein ahnungsloser Atheismus, die gelangweilte Gleichgültigkeit gegenüber Spiri­tualität. Davon ist Bargeld weit entfernt. Die biblischen Erzählungen lassen ihn ohnehin nicht los.

Offene Fenster

Und «Möbliertes Lied» lässt sich ja durchaus theologisch lesen. Versteckte Ecken von überholten Gottesbildern befreien und die Fenster für den Geist, der Staub aufwirbelt, öffnen, hat jedes Glaubenszimmer nötig zwischendurch.

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