Gesellschaft 15. Dezember 2025, von Marius Schären

Der gute KI-Mensch

Gesellschaft

Audrey Tang hat an der Uni Zürich eine eindrückliche Rede gehalten. Die «Right Livelihood Award»-Trägerin war Taiwans erste Digital-Ministerin – und findet Kraft in Spiritualität.

Wer Audrey Tang reden hört, ist zuerst wohl überrascht: Die Stimme klingt männlich tief. Sie war 2016 bis 2024 in Taiwan als erster Transgender-Mensch Mitglied der Regierung. 2005 hatte sie offiziell ihr Geschlecht geändert. Auf die Welt gekommen war sie 1981 mit männlichem Geschlecht.

Doch sobald die erste Irritation vorbei ist – oder auch direkt, wenn Tangs Aussagen schriftlich vorliegen –, dürfte schnell einfach der Inhalt ihrer Aussagen bedeutend werden. Dass ihre geschlechtliche Identität ihr selbst wenig zentral ist, unterstrich sie auch in einem Interview mit dem Portal dumbofeather.com 2017. Sie akzeptiere jedes Pronomen, mit dem die Menschen sie beschreiben möchten, hielt Tang damals fest. 

Audrey Tang, 44

Die Computerspezialistin wird als «Civic-Hackerin» bezeichnet: Sie nutzt digitale Technologien im Sinne des Gemeinwohls. Von 2022 bis 2024 war sie die erste Digitalministerin Taiwans. Dort konnte sie Methoden einführen, die weltweit Schule machen und adaptiert werden. Tang gilt als eine der Vordenkerinnen für gemeinwohl­orientierte KI-Nutzung. Anlässlich der Verleihung des Right Livelihood Award am 4. Dezember hielt sie an der Universität Zürich eine Rede, die das Online-Magazin Republik publizierte. Auch das englische Original hat das Magazin aufgeschaltet.

Wichtig ist der 44-Jährigen in allererster Linie die demokratische Gemeinschaft. Als hervorragende Informatikerin, die bereits mit acht Jahren zu programmieren begann und nun unter anderem am Institut für Ethik in Künstlicher Intelligenz (KI) an der Universität von Oxford forscht, setzt sie sich mit grösstem Engagement ein, dass sich die menschliche Gemeinschaft entwickelt, auch mit Nutzung von KI – und nicht dafür, dass die Maschinen überhand nehmen oder bloss Einzelne von der Technik profitieren.

«Die Superintelligenz sind wir»

Bei der Rede an der Universität Zürich am 4. Dezember unterstrich Tang ihre Haltung mit grosser Eindringlichkeit. «Die Superintelligenz, nach der wir suchen, ist keine Maschine, die darauf wartet, in einem Labor erfunden zu werden», sagte sie. «Wir sind es – unsere erweiterte kollektive Intelligenz.» Die mit dem als alternativen Nobelpreis geltenden «Right Livelihood Award» 2025 ausgezeichnete Digital-Technologin und -Aktivistin wies darauf hin, dass KI kein Schreckgespenst sein muss. Sondern dass es durchaus möglich ist, auch diese Technologie im Sinn der menschlichen Gemeinschaft zu nutzen.

Die Rede von Audrey Tang war nicht nur voll von höchst intelligenten Aussagen in Bezug auf die Menschheit, die Gesellschaft, Demokratie und die Rolle der Technik darin. Sie war ausserdem in hohem Mass persönlich, sprachlich eingängig und verständlich, praxisbezogen und durchdrungen von positiven Botschaften. Den Grund für ihr unermüdliches Engagement nannte Tang gleich am Anfang selbst: Bei ihr sei als Fünfjährige ein lebensbedrohlicher Herzfehler diagnostiziert worden. Sie habe eine 50-prozentige Überlebenschance gehabt bis zur Operation. 

Wenn man etwas Unvollkommenes veröffentlicht, etwas voller Verletzlichkeiten und unfertiger Gedanken, laden diese Risse zur Teilnahme ein.
Audrey Tang, Programmiererin

«Das bürdete mir eine Dringlichkeit auf, die Dringlichkeit, zu veröffentlichen, bevor ich vergehe», sagte Tang in Zürich. Sie habe begonnen, täglich aufzuzeichnen, was sie lernte: auf Kassetten, Disketten und dann im Internet. Dabei hatte Audrey Tang eine Erkenntnis: Veröffentliche man online etwas Perfektes, neigten die Leute dazu, auf «Gefällt mir» zu klicken und weiterzuscrollen. «Aber wenn man etwas Unvollkommenes veröffentlicht, etwas voller Verletzlichkeiten und unfertiger Gedanken, laden diese Risse zur Teilnahme ein. Menschen korrigieren, engagieren sich und gestalten mit.» 

Taoismus als Kraftquelle

Viele ihrer Aussagen deuten es stark an: Audrey Tang ist als hervorragende Programmierin nicht einfach ein rational funktionierender Nerd. Unter anderem beschäftigt sie sich intensiv mit Meditation, wie es in einem Porträt von Right Livelihood heisst. Nebst dem Optimismus und ihrer Spiritualität durchdringe das ihren öffentlichen Dienst. «Taoismus bedeutet, wie ich gelernt habe, ruhig zu bleiben – nicht als Religion, sondern als Überlebensfähigkeit.» So sei es für sie ein Weg geworden, um sich über Unterschiede hinweg verbinden zu können mit anderen Menschen und Ansichten.

«Right Livelihood» will gesellschaftlichen Wandel fördern

Die Organisation setzt sich seit über 40 Jahren ein für Frieden, Nachhaltigkeit und eine gerechte Welt für alle. Jedes Jahr ehrt sie visionäre Menschen mit dem «Right Livelihood Award». Seit 1980 haben 203 Menschen aus 81 Ländern haben die Auszeichnung erhalten. 

Ins Leben gerufen wurde der Award, nachdem die Nobelstiftung den Vorschlag abgelehnt hatte, auch Persönlichkeiten oder Organisationen zu würdigen, die in den Bereichen Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit Außerordentliches leisten. Insbesondere Changemaker aus dem Globalen Süden sollten mit dem Preis größere Aufmerksamkeit erhalten. Nominierungen können von allen aus der ganzen Welt eingereicht werden. Nach gründlicher Recherche wählt die Jury – internationale Experten zusammensetzt und frühere Preisträgern – die herausragendsten Changemaker dieses Jahres.

Mit dieser Haltung hat Tang unter anderem in Taiwan die Möglichkeiten für mehr freie Meinungsäusserung erreicht, für mehr Teilnahme, für eine stärkere Verteidigung der Gemeinschaft. Während Covid beispielsweise entwickelte sich durch den Einbezug der Bevölkerung eine Pandemiestrategie, die sich als eine der effektivsten auf der Welt erwies. Das trug dazu bei, dass das Vertrauen in die Regierung in Taiwan aus dem einstelligen Bereich auf über 70 Prozent stieg.  

Wie KI Demut zeigen kann

Am Institut für Ethik in der KI der Universtität Oxford arbeitet Tang mit der Forschungsdirektorin Caroline Green und ihrem Team. Sie entwickeln Grundlagen, um etwa Technologieführerinnen und -führern und politischen Entscheidungstragenden im Einsatz ethischer und für die Gemeinschaft positiv wirkender KI zu unterstützen. 

Wenn wir Benutzererfahrung sehen, lasst uns über menschliche Erfahrung nachdenken.
Audrey Tang, Programmiererin

Vom Engagement der Taiwanesin ist auch Caroline Green überzeugt. «Die Arbeit, die Audrey in Taiwan geleistet hat, zeigt sehr praktisch, wie KI gezielt genutzt werden kann, um Spaltungen zu überbrücken und Richtlinien und Lösungen zu finden, die wirklich zu Menschen sprechen und sie sich gestärkt fühlen lassen, weil ihre Stimmen gehört wurden und hoffentlich gehandelt wurden», sagt sie in einem Beitrag bei Right Livelihood. Tang weise darauf hin, wie KI Demut zeigen könne. Und darauf, dass wir diese Technologie für uns funktionieren lassen und unsere Gesellschaften verbessern können.

Vom maschinellen zum kollaborativen Lernen

Am Ende ihrer Rede in Zürich nannte Audrey Tang ihr «Mantra», wie sie es selbst bezeichnete. Es sei eine selbstverfasste Stellenbeschreibung für ihr Amt als Taiwans Ministerin für Digitales und bis heute für sie gültig. 

«Wenn wir das Internet der Dinge sehen, lasst es uns zu einem Internet der Wesen machen.
Wenn wir virtuelle Realität sehen, lasst sie uns zu einer geteilten Realität machen.
Wenn wir maschinelles Lernen sehen, lasst es uns zu kollaborativem Lernen machen.
Wenn wir Benutzererfahrung sehen, lasst uns über menschliche Erfahrung nachdenken.
Und wenn wir hören, dass die Singularität nahe ist, lasst uns immer daran denken: Die Pluralität ist hier.»

Ganz viele weitere eindrückliche Aussagen fehlen in diesem Text hier – das zeigt: Es lohnt sich, Tangs Rede vollständig zu lesen.