21. Februar 2024, von Christian Kaiser

«Kant ist als Denkzeitgenosse heute noch extrem wichtig»

Kant

Immanuel Kant prophezeite ein «Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren». Hat er sich geirrt, was lief falsch? Kant-Kenner und Kurator Thomas Ebers gibt Antworten.

Schauplatz ehemalige Bundeshauptstadt und UN-Stadt Bonn; die renommierte Bundeskunsthalle widmet dem Philosophen der Aufklärung zum 300. Geburtstag eine grossangelegte Schau. Und beim Gang durch das Gedankengebäude von Kants Schriften wird schnell klar: Kant war ein Pionier der Menschenrechte, Verfechter der Menschenwürde, Friedensvisionär. Der Einfluss von Kants Denken auf die Gründung von Internationalen Organisationen und auf Staatsverfassungen, welche den Bürgern freiheitliche, politische und soziale Rechte garantieren, ist unbestritten.

«Seine Schrift 'Zum Ewigen Frieden' bildet die Basis für alle supranationalen Organisationen», bestätigt Thomas Ebers. Der Philosoph und Kantkenner hat die grosse Ausstellung in Bonn über den Königsberger Philosophen mitkuratiert. «Kants Denken ist in die Gründung von Völkerbund und UNO eingeflossen, hat auch im Grundgesetz seine Spuren hinterlassen.» 75 Jahre UNO-Menschenrechtserklärung, 75 Jahre Grundgesetz der BRD, 300 Jahre Kant – Grund genug, sich eingehend mit seinen Ideen zu befassen.

Aufklärerische Fragen für die Postmoderne?

Die einen verehren ihn, die anderen lehnen ihn ab – Kants Person polarisiert auch noch 220 Jahre nach seinem Tod. Das bekamen auch die Ausstellungsmacher in Bonn zu spüren: Kurator und Philosoph Thomas Ebers: «Die einen sagen, wir würden ihn vom Sockel stossen, die anderen werfen uns vor, ihn unkritisch zu beweihräuchern.» Festgefahrene Positionen. Dabei war es das erklärte Ziel der Ausstellung, eine Debatte über die von Kant aufgeworfenen Fragen anzuregen, die aktueller denn je scheinen. «Immanuel Kant und die offenen Fragen» lautet deshalb der Titel der Ausstellung.

Aber lässt uns Kant heute fragend zurück oder gibt er auch Antworten für die drängenden Probleme der Zeit? Darüber unterhielt sich reformiert. mit Thomas Ebers, der einen mit Kurztexten zur kantischen Philosophie durch die Ausstellung begleitet.

Herr Ebers, in einer seiner letzten Schriften wirft Kant die Frage auf, «ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei». Und er bejaht diese Frage am Ende. Sie lassen in Ihrer Ausstellung auch junge Menschen zu Wort kommen und Kants Werk kommentieren. Da erhält man nicht den Eindruck, dass da viel Optimismus und Zuversicht herrscht.

In meinem persönlichen Umfeld erlebe ich tatsächlich recht viel Pessimismus unter Jugendlichen. Viele sagen mit Blick auf die Klimakrise oder die gegenwärtigen Kriege: Jetzt geht es dem Ende entgegen. Dieses apokalyptische Denken repräsentiert das Zitat einer Jugendlichen aus der 12. Klasse. Zumindest ist der Grundtenor der Stimmen so, dass man keinen Fortschritt erkennen kann.

Dazu gibt es ja auch einigen Grund: Kants Königsberg gehört heute zu Russland, das vor zwei Jahren die Ukraine überfallen hat. Einige Jahre zuvor hat Putin in Kaliningrad Lobhudeleien auf den Philosophen des Friedens gehalten ...

In der Tat: Putin hat sich mehrfach zu Kant geäussert, Russland hat ja hervorragende Kantforscher. Die Russen beanspruchen Kant auch für sich, zum Teil mit recht gesuchten Argumenten; im Siebenjährigen Krieg war Königsberg drei Jahre lang russisch, und Immanuel Kant hatte sich damals in eine Einwohnermeldeliste eingetragen und nie ausgetragen, deshalb sei er Russe. 1944 und 1945 wurde Königsberg vollkommen zerstört. Den Dom hat man allerdings wieder aufgebaut, man sagt, weil dort Kants Grab liegt und der Philosoph in Russland tatsächlich hoch geschätzt wird.

Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen, schrieb Hannah Ahrendt. Das ist der Kern von Kants Philosophie.
Thomas Ebers, Bonner Kant-Experte und Kurator

Eine von Kants zentralen Botschaften, dass man nämlich keine Angriffskriege führen dürfe, scheint jedoch nicht in Russland angekommen zu sein.

Genau. Seit 1807 treffen sich die Freunde Kants zu einer Tischgesellschaft, die bis heute besteht. Die «Gesellschaft der Freunde Kants» hat nach dem Angriff auf die Ukraine eine Stellungnahme verfasst, ungefähr mit der Botschaft an Putin: «Du hast von Kants zentralem Werk "Zum Ewigen Frieden", überhaupt nichts verstanden.»

Diese wirklich beeindruckende Schrift bildet die Basis aller später geschaffenen, friedensstiftenden supranationalen Organisationen: Wilsons Idee eines Völkerbunds zur Friedensstiftung 1918 nach dem 1. Weltkrieg – der Begriff «Völkerbund» geht ja auf Kant zurück – sowie dessen Nachfolgeorganisation die Vereinten Nationen, die nach dem 2. Weltkrieg gegründet wurden. Das halten die Freunde Kants Putin vor: Du weisst das, lass das doch!

Die Gesellschaft der Freunde Kants, das Bohnenmahl und der Aufruf an Putin: Beenden Sie diesen Krieg!

Nach dem Tode Kants 1804 beschlossen seine Freunde, jedes Jahr an seinem Geburtstag am 22. April zu einem Erinnerungsmahl zusammenzukommen. Beim ersten Treffen 1805 versammelten sich 25 Personen. Diese Tradition besteht bis heute fort. Die «Gesellschaft der Freunde Kants» hat es sich auf die Fahne geschrieben, «die Völkerverständigung zu fördern» und zitiert dabei Kants Schrift «Zum Ewigen Frieden»: Ziel müsse ein «Friedensbund» der Völker sein, «der alle Kriege auf immer zu endigen sucht».

Die Freunde Kants treffen sich noch heute in Königsberg zum «Bohnenmahl». Im zum Nachtisch gereichten Kuchen wird – ähnlich unserem Dreikönigsbrauch – jeweils eine silberne Bohne versteckt, und wer sie findet, wird zum Redner des Treffens im nächsten Jahr bestimmt. 2022 nach Russlands Überfall auf die Ukraine haben die Kant-Freunde einen scharfen Appell an Putin gerichtet: «Beenden Sie diesen Krieg!»

Sie erinnern ihn an seine Rede von 2005, wo er betonte, Kant sei kategorisch dagegen gewesen, «zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten durch Krieg zu lösen». Aus heutiger Sicht klingen Putins Worte wie blanker Hohn: «Wir müssen seine Lehre über die Lösung von Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln in die Tat umsetzen». Am 22. April 2024 werden die Freunde Kants wieder tagen und tafeln. Man darf gespannt sein.  

Die Stellungnahme der Freunde Kants findet sich hier: Stellungnahme der Gesellschaft FREUNDE KANTS UND KÖNIGSBERGS e. V. 

Ihre Heimatstadt Bonn, die in diesem Jahr ein eigentlicher Kant-Hotspot ist, nennt sich nicht nur UN-Stadt, hier wurde vor 75 Jahren auch das Grundgesetz der BRD unterzeichnet. Man kann Kant auch als Förderer der Menschenwürde und Pionier der demokratischen Idee bezeichnen, oder?

Selbstverständlich. Er sprach nicht von Demokratie, sondern von «Republicanismus», das ist das, was wir heute als repräsentative Demokratie ansehen; sie ist schlicht eine der Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben der Staaten miteinander. Damit Völker aufhören, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, müssen sie als Republiken organisiert sein, die sich gegenseitig als autonome Staaten respektieren. Die weiteren Voraussetzungen für den «Ewigen Frieden» sind: keine stehenden Heere, keine Angriffskriege, kein kolonialistisches Denken. Dass sich Staaten zunehmend demokratisiere, war für Kant eine Grundvoraussetzung, um der Menschheit einen Fortschritt zum Frieden zu ermöglichen.

Kant skizziert ja in einer anderen Altersschrift (Streit der Fakultäten) eine Art Evolution der Völker hin zum Besseren ...

... wichtig dabei ist: Der Evolutionsgedanke im Sinne einer natürlichen biologischen Entwicklung ist hier nicht gemeint, in Kants Zeit der Aufklärung ist immer zentral, dass der Mensch selber tätig wird, um einen besseren Zustand herbeizuführen. Man kann nicht einfach auf Gott oder den Lauf der Dinge hoffen, wir Menschen müssen das in die Hand nehmen. Das ist Kants aufklärerische Position: Nur wenn wir daran arbeiten, können wir begründete Hoffnung darauf haben, dass es besser wird, eben weil wir daran arbeiten. Alle Viere von sich zu strecken, gilt nicht. Kant schreibt ja in Zum Ewigen Frieden sehr deutlich: Frieden ist nicht die bloße Abwesenheit von Krieg. Der Friede muss erarbeitet werden.

​Bonn als Kant-Hotspot: Veranstaltungen rund um Immanuel Kant und den Geist der Aufklärung

Bonn war in den 80er- und 90er-Jahren eine Hochburg des deutschen Idealismus mit hervorragenden Kantforschenden. Im September findet hier der grosse internationale Kant-Kongress zu Ehren seines 300. Geburtstages statt. Nach der Ausstellung «Immanuel Kant und die offenen Fragen» in der Bundeskunsthalle (bis 17. März 2024) findet dort eine hochkarätig besetzte Ringvorlesung für ein breites Publikum statt. Das Thema: Was hat Kant uns heute rund um Fragen zu Migration, Klima- oder Demokratiekrise zu sagen?

Kant hat die Schrift 1795 in Form eines Friedensvertrages verfasst. Das war ein paar Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), den amerikanischen Grundrechtsgarantien (Bill of Rights, 1789) und der französischen Menschenrechtserklärung (1789). Kant nimmt diese Ideen offenbar begierig auf, geht dann aber in seiner Begründung der menschlichen Würde noch einen Schritt weiter, oder?

Zumindest begründet er sie für mich am schlüssigsten: Der Mensch hat eine Würde, weil er ethisch handelt und eine Vernunft besitzt und endlich ist. Er darf nicht instrumentalisiert werden, er ist ein Zweck an sich. Das ist eine überzeugende philosophische Begründung, jenseits aller religiösen Begründungen. Kant schliesst ja die Existenz eines Gottes nicht aus, aber Kants Ethik funktioniert ohne Gott.

Kant widerlegt ja auch frühere Gottesbeweise wie jenen von Thomas Aquin.

Auch wenn Kant sagt, man kann Gott philosophisch nicht beweisen, so weist er doch darauf hin, dass es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass es einen Gott gibt. Aber das darf nicht der Grund für unser ethisches Handeln sein. Denn wenn wir nur moralisch handeln aus Angst vor Strafe oder in der Hoffnung auf Belohnung, dann ist das nicht ethisch sondern egoistisch.

Stattdessen propagiert Kant, sich seiner Vernunft zu bedienen. Wage es, deinen Verstand zu benutzen, wird zum Motto der Aufklärung. Das ist das Mittel, welches den Fortschritt ermöglicht. Die Aufklärung ist also ein fortwährender, nie abgeschlossener Prozess.

Genau. Wir zitieren zu Anfang der Ausstellung dazu ja auch Kants berühmten Satz: Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung, nicht in einem aufgeklärten Zeitalter. Das bedeutet, wir müssen uns weiterhin darum bemühen, aufgeklärt zu werden. Es gibt ja auch eine Dialektik der Aufklärung: Die allzu starke Betonung des Verstandes kann auch zu negativen Effekten führen, das war ja schon die Kritik der Romantik an der Aufklärung. Unsere Position in der Ausstellung ist deshalb: Die Aufklärung muss aufgeklärt werden, das heisst, wir können und müssen mit Vernunft die Denkfehler der Aufklärung auflösen.

Sich seines Verstandes zu bedienen ist hochgradig anspruchsvoll und ist wohl in den letzten 300 Jahren nicht einfacher geworden.
Thomas Ebers, Philosoph

Das geschieht wohl nicht, indem jeder in seinem Kämmerlein vor sich hin denkt ...

Natürlich nicht. Dafür braucht es einen öffentlichen Austausch, indem man sich auch Argumente der Gegenseite anhört und eventuell auch bereit ist, von seiner Meinung abzuweichen. Dabei sind alle demokratischen Tugenden gefragt wie Toleranz, den Mut, Unsicherheit auszuhalten usw. Ich habe den Eindruck, dass heute in den digitalen Medien viel mehr Meinungen und Behauptungen oder Frust abgesondert werden als ernstzunehmende Argumente eingebracht. Wir haben zum Beispiel auch Mails bekommen mit dem Vorwurf, der nicht weiter begründet wird: «Wie kann man über einen alten, weissen Rassisten eine Ausstellung machen?» Kant ist als Denkzeitgenosse auch heute noch extrem wichtig – er ist kein alter weisser Mann aus einer vergangenen Zeit oder ein Rassist.

Gehen wir einmal davon aus, dass Kant Recht hatte: Dass der Mensch die Anlage hat, die Welt zu verbessern, dass es ein Fortschreiten der Menschheit zum Besseren geben kann. Warum sind wir dann im 21. Jahrhundert noch nicht weiter? Liegt es daran, dass wir immer noch zu wenig aufgeklärt sind?

Kant definiert ja Aufklärung als den «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Es gibt immer wieder neue solcher Unmündigkeiten, ich denke da zum Beispiel an den Social-Media-Konsum. Die letzte Untersuchung in Deutschland hat ergeben, dass 25 Prozent der Schüler nicht richtig lesen oder schreiben können. Die Aufklärung war immer schon ein Bildungsprojekt, das voraussetzt, dass man in der Lage ist, gute von schlechten und richtige von falschen Argumenten zu unterscheiden. Das ist hochgradig anspruchsvoll und ist wohl in den letzten 300 Jahren seit Kants Geburtstag nicht einfacher geworden.

Welche Schritte wären also nötig?

Medienpädagogik, die Beseitigung struktureller Ungleichheiten in der Bildung – das wären nötige Schritte, um überhaupt den Boden zu schaffen, damit man sich seines eigenen Verstandes bedienen kann. Neben solchen strukturellen Problemen ist es aber immer auch die Bequemlichkeit, die uns am Selberdenken hindert. Wir müssen auch bereit sein, die Mühe auf uns zu nehmen, aufgeklärt zu sein. Wir können die Verantwortung für unser Handeln nicht abgeben, an niemanden: «Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen», so hat es Hannah Ahrendt ausgedrückt. Das ist der Kern von Kants Philosophie.

In Ihrer Ausstellung hängt ein Bild, das «die vier Weltweisen» zeigt: Buddha, Konfuzius, Sokrates und Kant. Steht er wirklich auf dieser Stufe?

Er gehört sicher zu den ganz grossen Figuren, die das Denken der Menschheit ganz wesentlich beeinflusst haben. Das muss man schon anerkennen. Das Denken nach Kant war ein anderes als das davor. Der von Kant sehr geschätzte jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn hat das früh erkannt und Kant einen «Alleszermalmer» genannt.

Thomas Ebers: Bonner Philosoph, Kurator, Verleger

Thomas Ebers: Bonner Philosoph, Kurator, Verleger

Seit 2011 ist Thomas Ebers Leiter von 4 2 3 (sprich: Vierzwodrei), einem Institut für angewandte Philosophie und Sozialforschung in Bonn. Das Institut setzt sich zum Ziel, für die Lebenswirklichkeit von Menschen «Gestaltungsspielräume und Orientierungspunkte zu erschließen». In seinem eigenen Verlag Schreikönig publiziert Thomas Ebers auch Bücher, u.a. zum Philosophieren mit Kindern. Zusammen mit Freunden betreibt er den philosophischen Blog Vierzwodrei.com. Die Ausstellung «Kant und die offenen Fragen» anlässlich von Kants 300. Geburtstag hat er gemeinsam mit Agnieszka Lulinska kuratiert. Thomas Ebers (60) studierte Philosophie, Soziologie und vergleichende Religionswissenschaft in Bonn.