Schwerpunkt 21. Februar 2024, von Christian Kaiser

Von Immanuel Kant könnte man heute lernen, wie Friede geht.

Kant

Gibt es einen Fortschritt der Mensch­heit zum Besseren? Was kann der Mensch dafür tun? Auf der Suche nach Antworten müsste man eigentlich nach Kaliningrad und wird fündig in Bonn.

Eigentlich wollte ich ja nach Kaliningrad. Aber dort kann es im Winter eisig werden, bis zu minus 29 Grad. Ausserdem gibt es im ehemaligen Königsberg, der Geburts- und Sterbestadt von Immanuel Kant, zwar allerlei Devotionalien wie Kant-Schokolade, Kant-Glühwein und Tassen mit dem Profil des Philosophen, aber an den Originalschauplätzen von Kants Existenz ist kein Stein mehr auf dem anderen.

Sein Geburtshaus fiel schon 1740 einer Strassenerweiterung zum Opfer; sein Wohnhaus, in dem er in seinen letzten zwei Jahrzehnten die wichtigsten Schriften verfasste, wurde 1893 abgebrochen. An Kants Existenz erinnert in Kaliningrad wenig. Etwa die Nachbildung von Hut und Stock des berühmten Spaziergängerphilosophen auf einer Steinbank, dort, wo er täglich in einer Lindenallee seinen Gedankengang pflegte. Oder das Kant-Denkmal vor der Universität, die seit 2005 Kant-Universität heisst.

Ein Kriegsverbot

Der russische Präsident Wladimir Putin hat sie zusammen mit dem damaligen deutschen Kanzler Gerhard Schröder umbenannt. Ja, was eine Reise nach Kaliningrad weiter unattraktiv macht: Die russische Enklave gehört heute zum Einzugsgebiet von Putin, der sich nicht eben als Friedensförderer hervorgetan hat.

Ganz im Gegensatz zum Königsberger Philosophen; dieser hat in seiner Altersschrift «Zum ewigen Frieden» (1795), seinem eigentlichen Vermächtnis an die Welt, einen gross angelegten Friedensvertrag zwischen den Völkern skizziert und erstmals überhaupt von einem Völkerbund gesprochen. In einer seiner letzten Schriften (1798) wirft der scharfsinnige Denker die Frage auf, «ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?», und legt klipp und klar die Voraussetzungen für einen Weltfrieden dar: Völker brauchen eine Verfassung, die ihnen verbietet, Angriffskriege zu führen. Und eine demokratisch legitimierte Regierungsform, Kant bezeichnet sie als «republicanisch».

Der Friedenszustand unter Menschen ist kein Naturzustand.
Immanuel Kant, Philosoph

Eigentlich wollte ich nach Kaliningrad, um nach Spuren eines Fortschritts des Menschengeschlechts zum Besseren zu suchen. Ein von vornherein hoffnungsloses Unterfangen? Dass es 300 Jahre nach Kants Geburt immer noch Angriffskriege gibt, hat die russische Armee ja gerade bewiesen. Putin hat Kant schamlos als russischen Philosophen für sich vereinnahmt: Im Jahr 2014 berief er sich bei einem Besuch in Kaliningrad auf ihn als Vordenker eines Vereinigten Europas und befand, Kant müsse zum Symbol nicht nur der Universität und der Stadt, sondern gleich der ganzen Region werden: von Könisgsberg über Kaliningrad zur Kantstadt also.

Putin schwebt ja eine Art «Eurasische Union» unter russischer Herrschaft als Vision vor – und um die zu rechtfertigen zieht er gern alle möglichen rhetorischen Register. Dem Friedensvordenker Kant hätten die Annäherungen Putins wenig gefallen. Seine Schrift «Zum ewigen Frieden» ist ein Rundumschlag gegen Staatsoberhäupter, die den Krieg als Mittel für persönliche Zwecke inszenieren.

«Frieden muss gestiftet werden»

Als der Philosoph diese Abhandlung verfasste, hatte Europa noch nicht allzu lange einen Siebenjährigen Krieg hinter sich. Kants Preussen führte mit einer Koalition einen neuen Krieg gegen das revolutionäre Frankreich und war im Begriff mit den Franzosen einen Separatfrieden zu schliessen. Der Kontinent lag in Schutt und Asche. Kant schreibt: «Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (…). Er muss also gestiftet werden.»

Voraussetzung dafür ist ein echter Wille zum Frieden vonseiten aller Partien, nicht nur die Bereitschaft zu einem Waffenstillstand; letzterer ist ja nur die Atempause für die Vorbereitung eines neuen Kriegs, schreibt Kant. Das Minsker Friedens-Abkommen von 2014 zur Beendigung des Ukraine-Konflikts lässt grüssen. Man hätte Putins wahre Absichten schon damals durchschauen können, wirklich friedlich war die Situation an der ukrainischen Grenze danach nie.

Friede als Hauptaufgabe der Politik

Hier zeigt sich nach Kant die Kernaufgabe der Politik: Um Völkern eine Entwicklung in Frieden zu ermöglichen, hat sie dafür zu sorgen, dass «der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbniss der Sitten) abgehalten und so dem Menschengeschlechte bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden».

Der Fortschritt könne sich jedoch nur ereignen, wenn solche Gedanken in Freiheit publik gemacht werden dürfen. Kant entpuppt sich im Alter von 70 Jahren als ein vehementer Vorkämpfer für die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit. Und man weiss auch, wie der russische Staat 220 Jahre später mit regimekritischen Journalisten verfährt. Auch darum wurde mir von der Reise in Putins Reich eindringlich abgeraten.

Kants Einfluss auf das Grundgesetz

Also kein Spaziergang auf den Spuren des berühmten Spaziergängers vor Ort, obwohl das für das Verständnis seines umfangreichen Werks sicher hilfreich gewesen wäre. Denn schon im Vorwort der Erstausgabe seines Gesamtwerks (1838, 12 Bände) hatten die Herausgeber geschrieben: Wer Kant verstehen wolle, müsse sein Werk von der «literarischen Cultur Ostpreussens und Königsbergs» her angehen und vor dem Hintergrund der Geschichte des 18. Jahrhunderts.

Statt in Kaliningrad bin ich nun also in Bonn gelandet. Am Bahnhof empfängt mich ein blaues Schild mit der Aufschrift «Willkommen in der deutschen Stadt der Vereinten Nationen». Hier in dieser Stadt hat in einer schlichten Zeremonie Theodor Heuss, der erste Präsident der BRD, im Mai vor 75 Jahren das deutsche Grundgesetz unterzeichnet, im Namen des deutschen Volkes: «Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen», heisst es in der Präambel. Da hat man den Auftrag Kants offensichtlich verstanden und Ernst genommen.

Hier in Bonn wurde Friedensgeschichte geschrieben, nach dem schlimmsten Krieg aller Zeiten. Beim Bonner Rathaus hat Charles de Gaulle 1962 seine berühmte Rede zur deutsch-französischen Freundschaft gehalten. In Bonn gibt es an jeder Ecke Croissanterien und wehende französische Trikoloren. Etwas vergilbte Bilder beim Alten Rathaus zeigen einen gut gelaunten Michail Gorbatschow beim Besuch 1989, kurz vor dem Ende des Kalten Krieges. Die grosse Brücke über den Rhein heisst Kennedy-Brücke, der US-Präsident kam 1963 zum Freundschaftsbesuch.

Spazieren mit dem Denker

Kurz vor der Brücke kann man im Hotel Rheinland Botschafter-Zimmer im Look der 60er, 70er und 80er buchen. Bonn ist eine Stadt der Zeitreisen. Die berühmte Bundeskunsthalle zelebriert gerade die Exzentrik der Postmoderne von 1967 bis 1992 und beamt einen gleich nebenan 300 Jahre zurück in die Zeit von Immanuel Kant.

Die Ausstellung «Immanuel Kant und die offenen Fragen» ermöglicht das, wonach ich gesucht habe: Auf einem virtuellen Spaziergang in 3-D kann ich durch das rekonstruierte Königsberg flanieren. In den Räumen präsentiert das Kuratorenteam Kants Leben als begehbare Graphic Novel, da und dort durchsetzt mit thematisch passender moderner Kunst. Denn neben einer Haarlocke und ein paar Schnallenschuhen des Spaziergängers ist nicht viel mehr übrig an herzeigbaren Reliquien vom Leben des Königsberger Philosophenkönigs.

Grundfragen des Daseins

So ist die Bonner Ausstellung vorallem ein Gang durch das Gedankengebäude Kants. Er zeigt sich hier als Pragmatiker, der lebenspraktische Hinweise gibt, auf welche Weise sich der Mensch verbessern kann. Mit 74 stellt er in seinem letzten Werk die drei für das menschliche Dasein wesentlichen Grundfragen:

Was kann ich wissen?

Was soll ich tun?

Was darf ich hoffen?

Diese Fragen fliessen in die grosse Grundfrage ein: Was ist der Mensch? In dieser übergeordneten vierten Frage sind alle anderen enthalten.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Immanuel Kant, Philosoph

Und Kant gibt auch Antworten darauf, was man wissen kann, tun soll und hoffen darf. Kant sagt: Ja, es besteht Hoffnung, vieles und Grosses darf erhofft werden, obwohl der Mensch Mängel hat. Er ist für ihn «ein krummes Holz», aber eben auch verbesserungsfähig, wenn er seine Fähigkeiten nutzt.

Kant interessiert die Entwicklungsmöglichkeit des Menschen: Er ist nicht per se vernünftig, sondern nur vernunftfähig. Darin liegt der Kern seiner «kantigen» Philosophie, die eine ganz praktische ist und zeitlos nützlich zu den Fragen führt: «Wer können wir sein?» Und «Wer wollen wir sein?» Der Mensch ist das, was er sein will, dazu hat er einen freien Willen und einen Verstand.

Selber denken!

Aber blenden wir ins 18. Jahrhundert zurück. Es ist die Zeit der Aufklärung: Kant definiert diese geistige Strömung als den «Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit». Der Mensch ist für Kant ein vernunftbegabtes, Fragen stellendes Wesen, das es wagen soll, seinen Verstand zu benutzen. «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!», wurde zum Motto und Credo der Aufklärung. Kant hat den aufklärerischen Wahlspruch nicht erfunden, sondern beim römischen Dichter Horaz entlehnt, der schrieb: «Frisch gewagt ist halb gewonnen. Entschliesse dich zur Einsicht. Fang damit an.»

Es ist das Rezept, um die Unmündigkeit zu kurieren. Kant definiert dieses abhängige Unmündigsein als «Unvermögen, sich des Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen». Will heissen: Es ist kein Muss, einfach zu gehorchen, der Mensch soll selber mündig werden durch das Selberdenken, soll sich der vorgeschriebenen Dogmen von Klerus und Adel entledigen. Die Aufklärung wendet sich gegen die Bevormundung des Menschen durch Kirchen und Monarchien, die sich als von Gottes Gnaden eingesetzte Herrscher legitimieren, Kadavergehorsam verlangen und stehende Heere willkürlich verheizen.

Die inneren Koordinaten

Der grosse Vordenker und Professort Kant war auch ein Lehrer, der nicht die «Philosophie» sondern «das Philosophiren» lehren wollte. Eines seiner zentralen Gebote: Es gibt eine Pflicht zum Selberdenken, einfach bequem gehorchen gilt nicht. Das ist eine zeitlose, zeitgenössische Botschaft für eine Zeit, in der ständig neue Unmündigkeiten locken: Allerlei digitale Tools und künstliche Intelligenzen etwa, die einem das eigenständige Denken abnehmen. Und die Kunst des Philosophierens besteht erst einmal im Stellen der richtigen Fragen. Und darin war Kant gewiss ein Meister.

Für Kant ist der Mensch zudem ein Wesen mit einem sittlichen Innenleben, mit einer Vorstellung von Moral, die einen stets stützen kann, wenn man entscheiden muss: Was soll ich tun? Um dies herauszufinden, soll der Mensch seinen Werkzeugkoffer zur Erkenntnis gebrauchen; im Koffer sind der Verstand und die sinnliche Erfahrung.

Kant sagt: Der Verstand allein vermag nichts anzuschauen, und die Sinne können nicht denken. Nur dann, wenn sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entstehen. Es braucht beides: «Die Synthese aus Verstand und sinnlicher Wahrnehmung stellt für unsere Erkenntnisfähigkeit ein verlässliches Koordinatensystem dar» schreiben die Ausstellungsmacher dazu.

Handle so, dass deine Verhaltensregel jederzeit ein allgemeines Gesetz sein könnte. (Kants Imperativ, vereinfacht)
Immanuel Kant, Philosoph

Mit 64 formuliert Kant eine Antwort auf die Frage, was ihn als Menschen auszeichnet. «Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.» Und hier meint er sicher nicht nur das rein Wissenschaftlich-Rationale, also die Himmelskörper als astronomischen Untersuchungsgegenstand sondern eben auch das Staunen über die sinnliche Erfahrung der Unendlichkeit. Zum anderen zeigt sich Kant hier aber auch ehrfürchtig vor dem in einem selbst angelegten Moralgesetz, das es möglich macht, den Verstand sittlich korrekt zu nutzen.

Der berühmte Leitsatz

Dieses Sittengesetz hat als Kategorischer Imperativ Berühmtheit erlangt und hilft Antworten auf die Frage zu finden, was man tun soll. Etwas vereinfacht ausgedrückt lautet er: «Handle so, dass deine Verhaltensregel jederzeit ein allgemeines Gesetz sein könnte.» Das ist eine positive Verhaltensregel, im Gegensatz zu den biblischen Zehn Geboten (Du sollst nicht töten) oder der sogenannten Goldenen Regel (Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu).

Nach Kant gilt es also zu beherzigen: Tue das, von dem du wollen kannst, dass es alle anderen Menschen auch tun. Der Kategorische Imperativ liegt damit nahe an Jesu Gebot im Matthäusevangelium: «Alles, wovon ihr möchtet, dass es euch die Menschen tun, sollt auch ihr ihnen tun» (Mt 7,12). Kant selbst gelang es aus heutiger Sicht allerdings nicht immer, seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.

Auch Kant war nicht frei von Widersprüchen: Obwohl er jüdische Freunde hatte (etwa den Aufklärer Moses Mendelssohn), deren Denken er hochachtete, bediente er in seinen Schriften auch Stereotypen wie jene der jüdischen Raffgier. Einmal beklagte er sich gar, dass ihm ein Porträtist «eine jüdische Nase» gemalt habe. Und obwohl er die unverbrüchlichen Menschenwürde und die Gleichheit aller Menschen propagierte, hatte er einen Drittel seines Vermögens in Zuckeraktien der Königsberger Raffinerie investiert – und dass der Zuckerrohstoff unter menschenunwürdigsten, sklavenähnlichen Bedingungen auf den Plantagen in den Kolonien erzeugt wurde, war ihm sicher bekannt!

Das menschliche Geschlecht ist im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen und wird so fernerhin fortgehen.
Immanuel Kant, Philosoph

Eigentlich wollte ich ja nach Kaliningrad und dort der Frage nachgehen, ob die Welt überhaupt ein bisschen besser geworden ist seit Kant. Ich wollte durch die Stadt streifen, um dort nach Anzeichen eines «beständigen Fortschreitens des Menschengeschlechts zum Besseren» zu suchen, wie es Kant 1798 wagemutig gewahrsagt hatte. Vor über 30 Jahren hatte ich während des Studiums einmal eine Arbeit über diese Altersschrift Kants verfasst. Die Zeichen standen damals auf Hoffnung: Der Eiserne Vorhang war gefallen, und es wehte ein wärmendes Lüftchen des Friedens nach dem Kalten Krieg.

Und eigentlich war ich heute sicher, dass Kant irrte: Es gibt keinen ständigen Fortschritt zum Besseren. Europa und die Welt versinken nach wie vor in Kriegen, die Menschenrechte sind weiter bedroht. Und in Königsberg danach zu suchen, hielit ich für ein hoffnungsloses Unterfangen. Um 1800 zählte Königsberg mit 60000 Einwohnern zu den grössten Deutschen Städten und war grösser als Frankfurt, Köln oder München. 1919 wurde die Grossstadt als Teil von Ostpreussen vom Deutschen Reich getrennt und dann von den Nazis wieder einverleibt. 1944 zerstören die Luftangriffe der Britischen Royal Air Force den Stadtkern von Königsberg total. Auch der Dom, wo Kants Grab liegt, ist nur eine Ruine. 1945 erobert die Rote Armee die Stadt, die deutsche Bevölkerung wird vertrieben und die Stadt nach sowjetischem Muster neu erbaut und nach einem sowjetischen Politiker umbenannt.

Trotz allem habe ich Anzeichen für eine Besserung gefunden, in Bonn, in der Geschichte. Und ich habe mich von Kants Optimismus anstecken lassen: Der Mensch ist sehr wohl imstande, aus «Geschichtszeichen» zu lernen, sogar aus Katastrophen. Am Ende seines philosophischen Werks kommt er «allen Ungläubigen zum Trotz» zum Schluss, «dass das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde». Aber dieses Fortschreiten zum Besseren werde nicht von selber geschehen. Die Menschen müssten es wollen. Und bei sich selbst damit anfangen. Was denken Sie?

Der Mensch Kant, ein langweiliger, pedantischer Spaziergänger? Keineswegs.

Der Mensch Kant, ein langweiliger, pedantischer Spaziergänger? Keineswegs.

Kant wird gern als knochentrockener Stock karikiert, der immer zur gleichen Zeit spazieren geht, sodass man die Uhr nach ihm stellen kann. Ein lustfeindlicher Junggeselle, dessen geistige Disziplin ihn verdächtig macht. Ein Langweiler, der die Vernunft über alles stellt.

Dieses Bild dürfte der Dichter Heinrich Heine mitgeprägt haben: 1833 schrieb er über Kant, es sei schwer, seine Lebensgeschichte zu schreiben, weil er weder eine Geschichte noch ein Leben gehabt habe: «Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben.» Nicht mal die Uhr am Königsberger Dom habe ihr «Tagewerk leidenschaftsloser und regelmässiger vollbracht» als Kant.

«Alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbarn wussten ganz genau, dass die Glocke halb vier sey, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand aus seiner Hausthüre trat und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt.»

Doch das ist nur die eine Seite des Immanuel Kant. Er war ein geselliger Mensch, der gern Billard und Karten spielte, auch um Geld, und selten Gegner fand, weil er so gut war. Er war bekannt für seinen Witz und Humor, er konnte über sich selber lachen. Beispielsweise, wenn er seine immer schwarzen Strümpfe damit erklärte, dass sie seine bescheidenen Waden am besten kaschierten.

Ein Bild von Emil Dörfling zeigt ihn als gut gelaunten Vorleser in amüsierter Runde bei einem Glas Wein – Hut und Spazierstock stehen in der Ecke. Kant hatte zahlreiche Freunde, mit denen er regelmässig verkehrte: Zu ihnen gehörten u.a. die Kaufleute Joseph Green und Jean Claude Toussaint sowie die beiden Bankiers Ruffmann und Jacoby. Nach dem Tode Kants 1804 beschlossen seine Freunde, jedes Jahr an seinem Geburtstag am 22. April zu einem Erinnerungsmahl zusammenzukommen. Beim ersten Treffen 1805 versammelten sich 25 Personen. Diese Tradition pflegt die «Gesellschaft der Freunde Kants» bis heute.

Auch seine Studenten liebten ihn. 1761 hielt der Professor an der Königsberger Universität Vorlesungen in nicht weniger als sechs verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten: Logik, Mechanik, Physik, Metaphysik, Physische Geografie, Arithmetik und Geometrie. Zu seinen Hochzeiten als Professor unterrichtete der Universalgelehrte über 200 Studenten. Zu ihnen gehörte auch Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), der es später als grosses Glück beschrieb, Kant von 1762 bis 1764 als Lehrer gehabt zu haben.

«In seinen blühendsten Jahren hatte er die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floss von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zum Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang.» Der Kant-Schüler Herder wurde selbst zu einem der berühmtesten Philosophen der Aufklärung. Er sah den Daseinszweck des Menschen darin, seine Humanität stetig zu verbessern.