«Wir fragen zu schnell nach den Grenzen der Toleranz»

Verständigung

In politischem Streit regiert oft das Unverständnis. Das gelte es auszuhalten, sagt der Philosoph Jürgen Wiebicke: Demokratie heisse auch, neugierig zu bleiben auf Widerspruch. 

Verstehen wir uns noch? 

Jürgen Wiebicke: So wie ich die Gesellschaft wahrnehme, liegt das Problem eher darin, dass die Möglichkeit dazu fehlt. Die Begegnung findet gar mehr nicht statt. Ich beobachte bei vielen Menschen die Neigung, sich die Konfrontation mit anderen Meinungen und Lebensstilen gänzlich zu ersparen.

Aus Angst? 

Sich einzuschliessen in eine Welt unter seinesgleichen, geschieht tatsächlich aus Angst. Dass deshalb die Übung fehlt, mit konfrontativen Begegnungen umzugehen, ist klar. In Deutschland bieten Institutionen vermehrt Kurse gegen Stammtischparolen an. Mein Verdacht ist, dass Leute, die diese Angebote besuchen, aber gar nie in die Begegnung reingehen, weil die Menschen, vor denen sie eigentlich Angst haben, nicht Teil ihrer Lebenswelt sind.

Ist es nicht ein legitimer Impuls, sich mit Leuten zu umgeben, mit denen man sich gut versteht?

Natürlich ist das Leben bequemer, wenn ich nicht mit Widerspruch konfrontiert werde. Wir beziehen den Begriff «Blase» auf den digitalen Raum. Aber in den sozialen Medien werde ich viel eher mit Widerspruch konfrontiert als im realen Leben. An Geburtstagsfeiern sitzen oft nur Leute am Tisch, die ohnehin der gleichen Meinung sind. Und wenn nicht, sprechen sie die Differenzen lieber erst gar nicht an.

Jürgen Wiebicke

Der deutsche Journalist moderiert wöchentlich «Das philosophische Radio» auf WDR 5 und ist Autor zahlreicher Bücher. Er studierte Germanistik und Philosophie in Köln und gehört zum Leitungsteam des internationalen Philosophiefestivals Phil.Cologne.

Literaturhinweis: Jürgen Wiebicke: Erste Hilfe für DemokratieRetter. KiWi, 2025

Manchmal ist es klüger zu schweigen, statt sich zu streiten.

Nach einer Lesung kam einmal jemand zu mir und meinte, sie sei so froh um mein Buch, denn sie habe gedacht, sie dürfe mit ihrer Mutter, die jetzt die AfD wähle, nicht mehr sprechen. Die Gefahr, dass jemand in ein bestimmtes politisches Spektrum abdriftet, führt also automatisch zum Beziehungsabbruch. Das finde ich schon sehr dramatisch.

Wie würden Sie denn reagieren, wenn ein guter Freund plötzlich Positionen vertritt, die Sie problematisch oder gar gefährlich finden?

Zuerst würde ich in den Streit hineingehen. Im Gespräch muss ich herausfinden, wo meine Grenze liegt.

Und wo liegt Ihre Grenze?

Oft kommt mir die Frage nach den Grenzen der Toleranz viel zu früh. Möglicherweise stellt sie sich, aber sie kann nicht der Anfang sein. Der Ausgangspunkt ist für mich: Die Grenzen der Freiheit sind weit. Und ich kann mich mit meinen Überzeugungen nicht zum Mittelpunkt der Welt machen und von da aus einen Kreis ziehen, um die Grenzen zu definieren. Es wird zu häufig und zu schnell über Grenzen gesprochen.

An unterschiedlichen Lebenswelten und politischen Einstellungen können Beziehungen auch zerbrechen. 

Ja. Doch wenn ich mit mir ringe, ob ich meinen rechtsgedrehten Onkel noch ertrage oder den Kontakt abbreche, geht es nie allein um politische Fragen. Die Beziehungsebene steht im Vordergrund. Das ist eine sehr persönliche Entscheidung.

Im öffentlichen Streit geht es nicht darum, das Gegenüber zu überzeugen und sich einig zu werden. Vielmehr gilt es, den Streit so zu führen, dass zuhörende Dritte urteilsfähig werden.

Dann ist es legitim, politischen Themen auszuweichen, damit die Beziehung keinen Schaden nimmt? 

Sicher. Wir dürfen das Unverständnis aushalten und uns gegenseitig verschonen, wenn wir der Auffassung sind, dass es ein paar Kostbarkeiten gibt, die uns verbinden. Ich kann aber auch zum Schluss kommen, dass diese Differenz auf Kosten meiner Integrität geht und ich mit meinem Onkel nichts mehr zu tun haben will. Beides ist legitim, aber es ist ein privater Entscheid.

Und was gilt in der Öffentlichkeit? 

Ich beobachte, dass private Massstäbe sofort auf den öffentlichen Raum übertragen werden: Lust oder Unlust, Angst oder keine Angst. Doch im öffentlichen Streit geht es nicht darum, das Gegenüber zu überzeugen und sich einig zu werden. Vielmehr gilt es, den Streit so zu führen, dass zuhörende Dritte urteilsfähig werden. Eine Fernsehdebatte hat einen anderen Charakter als ein Streit im Wohnzimmer.

Welche Spielregeln braucht es denn in der politischen Debatte?

Das Betriebssystem der Demokratie lautet: Das gute Argument hat eine Chance. Wenn ich davon ausgehe, dass die Menschen ohnehin viel zu doof sind, um das gute Argument zu verstehen, kann ich den Demokratiebetrieb einstellen.

Die Wahlergebnisse in den USA oder in Deutschland haben Ihr Vertrauen, dass sich das gute Argument durchsetzt, nicht erschüttert?

Es wird täglich massiv erschüttert. Was wäre jedoch die Konsequenz, wenn ich das Vertrauen durch Misstrauen ersetzen würde? Gehe ich davon aus, dass die Leute vor schlechten Argumenten geschützt werden müssen, bin ich mit einem Bein im autoritären Denken.

Ich empfehle eine selbstbewusste Gleichgültigkeit: Der Rechtspopulismus ist ein Scheinriese.

Wenn wir aushalten müssen, dass wir uns manchmal nicht verstehen: Was hält uns noch zusammen?

Unsere Gesellschaftsordnung lebt davon, dass Menschen selbst etwas machen. Beispiele dafür finde ich in Stadtvierteln oder Dörfern, wo zum Beispiel eine Bäckerei als sozialer Ort geschlossen worden ist. Wenn Menschen gemeinsam diesen Raum übernehmen und dort einen sozialen Treffpunkt eröffnen, entstehen Keimzellen der Demokratie.

Es sind oft Leute aus ähnlichen Milieus, die solche Räume bespielen. Auch sie bleiben lieber unter sich.

Wir sollten aufhören, immer an die Abwesenden zu denken. In der Demokratie sind nie alle Leute top informiert und aktiv. Teilnahmslosigkeit gehört halt auch dazu

Sie machen sich keine Sorgen um die Demokratie?

In Deutschland starren wir zu sehr auf die AfD-Wähler und vergessen die Mehrheit, die anders denkt. Ich empfehle eine selbstbewusste Gleichgültigkeit: Der Rechtspopulismus ist ein Scheinriese.

Die Trump-Regierung wirkt zurzeit nicht wie ein Scheinriese.

Vielleicht bieten die Regierungsjahre von Donald Trump und ihre katastrophalen Auswirkungen ja die Chance, dass wir erkennen, was wir nicht wollen. Es reicht jedoch nicht, einfach dagegen zu sein. Wenn uns die Angst in den Kleidern sitzt, sind wir nicht attraktiv. Wir brauchen einen Spirit, der ansteckend wirkt.

Eine gemeinsame Vision gegen die eigene Verzwergung?

Genau. Wir müssen aufzeigen und vorleben, dass Demokratie und zivilgesellschaftliches Engagement keine Pflichtübungen sind, sondern die Chance bieten, das Leben zum Guten zu verändern. Natürlich kenne auch ich den Zweifel. Vielleicht zerschellen meine Hoffnungen an der Realität, denn es geschehen Dinge, die mich fassungslos machen. In diesen Momenten hilft mir der Gedanke, dass Ideen in der Welt bleiben, selbst wenn sie scheitern. Jedenfalls hatten es Demokratie und Freiheit schon häufig nicht leicht, trotzdem haben sie die Jahrtausende überdauert.