Einen Hauch vom Klang der Erde einfangen

Musik

Alf Jetzer ist im Alter zur Höchstform aufgelaufen. Endlich hat er die Flöte gebaut, die ihm immer vorgeschwebt hat: eine mit Seele. Auch sein musikalisches Spätwerk ist berührend.

Sein neustes Farbikat heisst «Gaia-Erdklangflöte». Wobei «Werk» in diesem Fall sicher eine treffendere Bezeichnung ist als «Instrument». Denn es handelt sich um ein eigentliches Kunstwerk, in tagelanger Handwerkskunst gefertigt aus österreichischem Feldkirschholz. Wenn man ihm Atem einhaucht, gibt es Töne von sich – und was für welche; warm und erdig und voll füllen sie den Raum aus.

Genau das war auch die Absicht, der Name «Erdklang» war immer schon Programm und der Zusatz eine Hommage an die griechische Erdmutter Gaia. Nun, mit 75, hat Alfred Jetzer das Kunststück geschafft, das ihm immer vorschwebte: eine Flöte zu bauen, die einfach zu spielen ist und schon die Anfängerin oder den Anfänger mit ihrer besonderen Ausdruckskraft überrascht. «Man soll schon beim ersten Ton die persönliche Note erkennen – wie bei einer Singstimme, die ja auch weltweit einzigartig ist.» 

Pentatonische Ethnoflöten aus Zürich

Jetzer wollte schon immer das «Timbre» zur Entfaltung bringen: den personifizierten, lebendigen Klang. 40 Jahre Entwicklungsarbeit stecken in diesem Kirschholzrohr mit fünf Löchern vorn und einem hinten für den Daumen. Jahrelang hat er an seiner Werkbank gebohrt und geschliffen, Mundstücke konstruiert und geleimt für den richtig vollen Ton. Als Vorlage dienten ihm Ethnoflöten verschiedener Kontinente. Angefangen hat er mit simplen Bambusrohren, geschaut, was funktioniert, vieles verworfen, das Gute behalten, Neues ausprobiert. 

In seinem Zürcher Atelier in Uitikon-Waldegg steht rechts neben seiner Hobelbank eine Sammlung von 30 Prototypen. Sichtbare, jahrzehntelange Feinstarbeit; verschiedene Längen und Holzarten in diversen Tonlagen. «Ich war zum Glück schon immer handwerklich begabt – der Rest war Learning by Doing. Aber ich hatte am Anfang natürlich keine Ahnung, wo das alles hinführt.»

Langes Tüfteln am richtigen Mundstück 

Mit dem bekannten Flötenbauer Huber entwickelte sich eine fruchtbare Kooperation mit dem Ziel, die Erdklangflöte stetig zu verbessern und vor allem: immer gleiche, hohe Qualität zu erreichen. Bis das Verhältnis von Luftkanalisation, Rohrdurchmesser und Wandstärke des Rohrs stimmten, war es ein weiter Weg. «Das Schwierigste war das Mundstück: Herkömmliche Ethnoflöten werden schnell heiser.»

Man muss konsequent den Weg von innen heraus gehen: Wie bin ich gelagert, wo will ich hin?
Alf Jetzer, Flötenbauer und Musiker

Alf Jetzer spielt auf der Erdklangflöte (beim Bild nach rechts klicken):

Musik führt in die Tiefe

Mit der Gaia-Erdklangflöte ist ihm sein Meisterstück gelungen. «Man darf sie ruhig intensiv spielen – mit Vertrauen und Überzeugung hineinblasen, auch in der freien Natur.» Rund eine Woche arbeitet Jetzer an einer Flöte: «Je mehr Hingabe man beim Bauen hineingibt, desto mehr Lebendigkeit kommt heraus, die Leute merken das», erläutert Jetzer. «Das ergibt einfach mehr Spirit.» 

Seine Flöten bezeichnet er gern als «beseelt», und wahrscheinlich kann nur ein alter Weiser, wie er es ist, einem Stück Holz so Seele einhauchen, dass auch die Spielenden und Zuhörenden von den Klängen seelig werden. Er sagt Sätze wie «Meditation und Musik ergänzen sich extrem gut» und «ich bin wie eine Insel, die das hochhält, worauf es ankommt: Das Bestehende immer stärker werden zu lassen – das ist der Weg, der in die Tiefe führt.» 

Den Weg aus dem Inneren beschreiten

Spirituelle Menschen seien einfach reicher, verstünden mehr: «Ihre Intuition verbessert sich, sodass es den Verstand immer weniger braucht und das Innere hervortreten kann. Man muss konsequent den Weg von innen heraus gehen; wie ist man gelagert, wo will man hin?» Irgendwie ist dieser zarte, feinfühlige Mann das leibhaftige Kontrastprogramm zu den Krankheiten unserer Zeit: Zeitlosigkeit, Hetze, Oberflächlichkeit, Materialismus. 

Fürs Feintuning und das Stimmen jedes einzelnen Exemplars nimmt er sich viel Zeit. «Alles, was ich mache, darf kein Schnellschuss sein». Das Besondere an seiner Flöte: Man soll sie spielen können, ohne spielen zu können. Ohne Noten, ohne Kurse, frei von Druck und Talent – einfach hinhören, wie sie klingt, Improvisation pur. Im Idealfall gelange man an den Punkt, wo man merkt: «Ich bin es nicht mehr, das spielt, sondern es spielt in mir, durch mich; ich bin selber das Instrument von etwas Höherem.»

Malen mit Tönen

Seine Kundschaft besteht neben musikalischen Anfängern und Profis auch aus Therapeuten, Märchenerzählerinnen, Schamanen, Waldkindergärtnerinnen. «Viele spielen das Instrument auch in der Natur, die Erdklangflöte ist prädestiniert dafür, dank ihrem soliden, erdigen Klang – und Luftfeuchtigkeit macht ihr nichts.» Früher hat er selber in 20 Jahren rund 400 Konzerte gegeben, oft ist er auch in Gottesdiensten aufgetreten. «Ich habe immer gern in Kirchen gespielt, auch wegen der Akustik», sagt er.

Aber die letzten 15 Jahre hat er sich darauf fokussiert, an seinen Flöten zu tüfteln. Und komponiert: «Musical Painting», Malen mit Musik nennt er seine Methode. Er spielt dafür alle Tonspuren selber einzeln ein und legt sie dann am Computer übereinander zu einem stimmigen Gemälde. Gegenüber von seinem Holzbearbeitungsplatz hat er diverses technisches Equipment aufgebaut, ein ganzes Sammelsurium an Instrumenten steht bereit; Rhythmus- und Perkussionsgeräte, Klangschalen, Gitarren. 

Apropos: Gitarre spielt er schon seit seinem 8. Lebensjahr, mit ihr begann seine Leidenschaft für die Musik. Als junger Erwachsener hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, fuhr Taxi. Irgendwann ermöglichte ihm das Honorar als Gitarrenlehrer erstmals, von der Musik zu leben. Auch spielte er Klarinette in der Jugendmusik. Das mag den Grundstein für seine Leidenschaft gelegt haben, mit dem Atem Töne zu erzeugen. 

Ein Musikerleben kommt zur Entfaltung

«Unfolding» heisst sein neustes Album auf der Musikplattform Bandcamp. Zum Downloaden, «CDs kauft ja niemand mehr». Es ist die Entfaltung eines langen musikalischen Lebens, das auch ein meditatives, kontemplatives war.  «Davor war alles nur Vorbereitung, jetzt ist alles zusammengekommen.» Dieses Album ist die Krönung seines Schaffens. «Das, was lange in mir geschlummert hat, kommt nun zum Vorschein.» 

Wer ihn in seinem Atelier-Kabäuschen besucht und zuhört, wenn er ein paar Töne spielt, bekommt das Gefühl, an einem grösseren Ganzen angeschlossen zu sein. Ok, ein bisschen hilft Jetzer auch technisch nach, nutzt das Mikrofon und gibt Hall dazu, so klingt's pompöser, ergreifender. «Wie in einer Tiefgarage, in einem Treppenhaus oder einer Kirche», grinst Jetzer verschmitzt.  

Und plötzlich, als man sich schon fast verabschiedet hat, fängt er an, mit einem Schläger auf einem runden Metallkörper den Beat aus seinem Song Soulbirds (Seelenvögel) zu trommeln – und strahlt dabei wie ein Bub, der die rollenden silbernen Kugeln einer Kugelbahn in Gang setzt. Und man kommt nicht umhin zu denken; da hat sich einer im Alter tatsächlich entfaltet wie ein Falter.

PS. Ich habe dem Meister sofort einen in Fis gestimmten Prototypen aus Palisander abgekauft. Scheint mein Timbre zu sein ;-)