«Christliche Werte lebe ich, ohne zu glauben»

Wie haben Sies mit der Religion, Herr von Graffenried?

Bin ich religiös? Ja und nein. Ich versuche, nach einer christlichen Ethik zu leben und Werte wie Nächstenliebe, Freundlichkeit, Solidarität, Respekt gegenüber der Schöpfung, Recht und Gerechtigkeit zu respektieren. Aber nein, ich habe keinen Glauben, ich gehe nicht davon aus, dass es eine höhere Macht oder göttliche Lenkung gibt. Wir, die Menschheit, sind selbst verantwortlich für unser Handeln.

Das eigene Handeln kann an Grenzen stossen. Worin finden Sie Halt und Kraft, wenn es im Leben schwierig wird?

In der Regel habe ich das Bedürfnis, meinen Kummer zu teilen. Meistens suche ich Unterstützung und Zuspruch – von meiner Frau oder von nahestehenden Personen. Oft suche ich aber auch Distanz und Ablenkung. Im Sommer tauche ich dafür am liebsten in die Aare ab. Das Geräusch der Kiesel im Fluss macht mich glücklich.

Sie sind Stadtpräsident von Bern, einer Stadt, die viele Touristen als «paradiesisch» bezeichnen. Wie regieren Sie dieses Paradies?

Dass wir in Bern wie im Paradies leben, ist nicht mein Verdienst. Aber für mich ist es wichtig, dass wir diese paradiesischen Qualitäten erhalten und pflegen. Am wichtigsten ist mir, dass wir in einer offenen Gesellschaft leben. Dafür braucht es physische und soziale Sicherheit und gegenseitigen Respekt.

Über dem Sitz der Stadtregierung weht die Flagge der Ukraine. Weshalb haben Sie sich zu diesem Zeichen entschlossen?

Die Fahne erinnert mich täglich an diesen fürchterlichen Krieg. Jeden Tag sterben Hunderte unschuldiger Menschen, Zivilpersonen und solche im Dienst, jeden Tag fallen Bomben auch auf private Wohnungen. Der Krieg ist unmenschlich, und es ist unsere moralische Pflicht, der Ukraine in der Abwehr dieses Angriffs beizustehen.