Wie haben Sies mit der Religion, Herr Dobelli?
Ich bin in einem reformierten Haushalt im mehrheitlich katholischen Luzern aufgewachsen. Mit sechzehn nutzte ich die erste Gelegenheit, um aus der Kirche auszutreten. Mit vierzig habe ich mich dann noch einmal intensiv mit Religion befasst: zog mich für längere Zeit
in ein Kloster zurück, las das Neue Testament und diskutierte mit den Priestern. Dabei bin ich zum Schluss gekommen, dass mir zum Glauben die Evidenz fehlt.
Wie meinen Sie das?
Man weiss, dass Menschen, die an einen Gott glauben, das oft als sehr heilsam erleben. Nehmen wir aber das Gedankenexperiment des US-amerikanischen Physikers Bobby Henderson: Er erfand das «fliegende Spaghettimonster» und zeigte auf, dass, wer daran glaubt, ebenfalls eine positive Wirkung empfindet. Daraus schliesse ich: Es ist nicht entscheidend, woran jemand glaubt. Und das meine ich mit fehlender Evidenz: Es gibt für mich keinen Grund, an Gott zu glauben.
In Ihren Kolumnen schreiben Sie oft vom Stoiker, der alles so nimmt, wie es ist. Sind Sie ein Stoiker?
Ich versuche es. Mich beeindruckt die Fähigkeit zur Hingabe an das, was ist, ohne darin einen Sinn oder gar einen göttlichen Willen finden zu müssen. Dennoch: Mir ist nicht alles egal. Die Menschen, mit denen ich lebe, sind mir sehr wichtig, und sie zu verlieren, wäre äusserst schmerzhaft. Die Liebe spielt in meinem Leben durchaus eine Rolle. Halt einfach die Liebe zu den Menschen, nicht die zu Gott.
Finden Sie in der Philosophie des Stoizismus Ihre Religion?
Nein, aber im Christentum ist viel von dem zu finden, was den Stoizismus ausmacht. In den Paulus-Schriften etwa kann man das nachlesen. Ich behaupte jedoch, dass der Stoizismus das Christentum beeinflusst hat und nicht umgekehrt, wie das immer wieder behauptet wird.