Wie haben Sies mit der Religion, Frau Kopatchinskaja?
Als Kind in Moldawien ging ich jeden Sonntag mit meiner Grossmutter zur Messe. Der Sprechgesang der rumänisch-orthodoxen Priester ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Meine Grossmutter hat auch jeden Tag in der Bibel gelesen. Vor allem aber haben mir meine Grosseltern vorgelebt, wie man auch in schwierigen Umständen seinem Gewissen verpflichtet bleibt.
Und heute? Fühlen Sie sich einer religiösen Tradition verbunden?
Jedenfalls entspricht meine Art, Musik zu leben, der mystischen Tradition, die von jeher von Institutionen und Schulen bekämpft wurde, weil sie sich nicht an die dekretierten Regeln hält.
Was hat Musik mit Spiritualität zu tun?
Wie Schumann sagte, beginnt Musik dort, wo die Worte aufhören. Es ist deshalb schwierig, darüber zu reden. Eigentlich sollte Musik so sein, dass man auf der Stuhlkante sitzt und Gänsehaut kriegt. Das lässt sich nicht erzwingen. Wenn es gelingt, ist es Gnade.
Ist für Sie musizieren also ein bisschen wie beten?
Nach Christus ist öffentliches Beten verwerflich. Somit kann öffentliches Musizieren auch nicht mit Beten verglichen werden. Was ich beim Musizieren suche, ist eine Sicht auf die Wahrheit. Diese Wahrheit kann schön sein, wie die ausgewogen proportionierten Werke Bachs oder diejenigen des Gotteskindes Mozart. Aber sie kann auch wehtun, und das darf dann nicht mit Caramelsauce übergossen werden.
Auf der Suche nach künstlerischer Wahrhaftigkeit scheren Sie sich um alle Konventionen. Sind Sie auf der Suche nach spiritueller Wahrhaftigkeit auch so radikal?
Ich weiss nicht, ob jetzt der Moment ist für schöne Reden über Glauben und Spiritualität. Mit der Klimaerwärmung sind wir kollektiv daran, die uns von Gott gegebene Schöpfung unwiederbringlich zu verbrennen. Abhilfe ist nicht in Sicht. Am Lucerne Festival inszenierte ich ein Konzert über diese ignorierte Katastrophe: Dies irae, Tag des Zorns. Wahrhaftigkeit und Radikalität bräuchten wir vor allem in dieser Frage.