Der Dozent für hebräische Sprache lebt in Zürich, der Kontakt zum Vater, der nun in einem Jerusalemer Krankenhaus im Sterben liegt, ist vor 30 Jahren abgebrochen. Eher widerwillig kommt er dem Wunsch des Vaters nach, wenigstens ans Sterbebett zurückzukehren.
Ungesagte Worte
Es wird ein stummer Abschied. Von seiner Schwester gefragt, ob eine Versöhnung möglich gewesen wäre, hätte der Vater den Herzinfarkt überlebt, reagiert Gadi selbst mit Fragen: «Was für einen Wert hat eine Versöhnung so kurz vor dem Tod? Für ihn? Für mich?»
Usama Al Shahmani beginnt seinen Roman mit der Suche nach den Brüchen im Leben und den Rissen, die sich durch Familien ziehen, er fragt nach der Trauer, dem Trotz und der Liebe. Und er legt dann den Blick frei auf ein dunkles Kapitel in der irakischen Geschichte, das selten beleuchtet wird.
Das Gift des Antisemitismus
Gadi nimmt die Tagebuchblätter des Vaters an sich. Auf dem Rückflug blättert er schlaftrunken darin und schreckt auf. Die Aufzeichnungen handeln von einer Stadt, in der Juden und Muslime seit Jahrhunderten friedlich zusammenlebten und in der sich nach dem Rückzug der britischen Verwalter das mutierte Virus des Antisemitismus ausbreitet. Als Brandbeschleuniger wirkt die Unterstützung aus Deutschland. Die Nazis nutzen den Hass auf die Kolonialmacht als Einfallstor für ihre Ideologie.
Nach dem Ende des britischen Mandats 1932 hat König Faisal den Irak in die Unabhängigkeit geführt. Bereits nach einem Jahr erkrankt er jedoch und lässt sich in der Schweiz behandeln. Er stirbt am 8. September 1933 in einem Berner Luxushotel «unter mysteriösen Umständen».
Propaganda aus Berlin
Gesteuert aus Berlin durch das Hitlerregime nutzt der faschistische Mob das Machtvakuum und organisiert sich in der Politik und auf der Strasse. Jüdische Geschäfte werden geplündert, Juden und Jüdinnen angegriffen und getötet.
Der Faschismus mischt sich mit dem Hunger nach religiöser und nationaler Identität, der Judenhass gerät nun zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Die Erzählung gewinnt so beklemmende Aktualität: Wird zurzeit gerne über einen importierten Antisemitismus debattiert, entlarvt Al Shahmani die Ideologie als europäischen Exportartikel.
Wer kennt sich schon
Gadi erkennt, wie viel die Abgründe in der Geschichte mit seiner Herkunft zu tun haben. Sein Grossvater musste seine florierenden Webereien in Bagdad aufgeben und mit der Familie nach Israel flüchten.
Klug verwebt Al Shahmani, der einst nach der Veröffentlichung eines Theaterstücks vor den Schergen des Diktators Saddam Hussein aus Bagdad in die Schweiz flüchten musste, Historie und Familienepos.
Gadi reist an den Tigris, um dem Vater einen letzten Wunsch zu erfüllen. Und macht eine so universelle wie existenzielle Erfahrung: wie viele lose Fäden und offene Fragen jeder Tod hinterlässt.
Usama Al Shahmani: In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied. Limmat Verlag, 2025