«Wir erforschen hunderte von Fluchtgeschichten individuell»

Erinnerungskultur

Die Schweiz erhält ein Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus. Geplant sind ein Erinnerungsort und ein Vermittlungszentrum. Die Arbeiten sind in vollem Gang.

2025 werden 80 Jahre vergangen sein seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mit fortschreitender Zeit werden die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen des Holocaust immer weniger. Damit die Gräueltaten und Verbrechen des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten, soll in der Schweiz ein Memorial für die Opfer errichtet werden. Im Frühling 2022 beauftragte das Parlament den Bundesrat mit der Umsetzung. Geplant sind ein Erinnerungsort in Bern und, ausgehend von einem Vermittlungszentrum in Diepoldsau an der schweizerisch-österreichischen Grenze zum Thema Flucht, ein nationales Netzwerk von Gedenkstätten. Wo stehen die Arbeiten heute?

Vermittlungszentrum an historischem Standort

Mit der Realisierung des Vermittlungszentrums in Diepoldsau hat der Kanton St. Gallen das Jüdische Museum im österreichischen Hohenems beauftragt, das gleich ennet dem Alten Rhein liegt. Die Institution hat vor zweieinhalb Jahren einen Radweg mit 52 Hörstationen zur Geschichte der Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs eröffnet, der durch das Rheintal an den Bodensee und dabei auch durch Diepoldsau führt. Somit ist das Museum bestens mit dem Thema vertraut.

Vor einem Jahr habe das Museum den Aufbau des Vermittlungszentrums in Angriff genommen und dafür auch eine Person eingestellt, sagt Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems. Mittlerweile zeichne sich ab, dass das Zollamt in Diepoldsau das bauliche Zentrum des Vermittlungsortes werden solle. Es handelt sich dabei um ein historisches Gebäude aus den 1930er-Jahren und damit um einen authentischen Schauplatz des Geschehens. Das Zollamt alleine reicht aber platzmässig nicht aus. Deshalb soll zusätzlicher Raum geschaffen werden. Wo und wie, sei noch offen und hänge von den dereinst zur Verfügung stehenden Mitteln ab, so Loewy. 

Die Finanzierung ist derzeit in Abklärung. Ein unter anderem hierzu gegründeter Verein wird Geld vom Schweizer Bundesamt für Kultur beantragen – zwei Millionen stehen in Aussicht – und bei weiteren Partnern und Stiftungen in der Schweiz und im Ausland für weitere Gelder anklopfen.

Zunächst braucht es Forschung

Gleichzeitig laufen in Hohenems bereits inhaltliche Arbeiten. «Wir erforschen nun hunderte Grenzübertritte und die damit verbundenen menschlichen Schicksale individuell», sagt Loewy. Aus all diesen einzelnen Fluchtgeschichten entstehe ein riesiger Pool an Informationen, aus dem die Ausstellung im geplanten Vermittlungsort konzipiert werden kann. Im Fokus stehen die Geflüchteten, darunter vor allem Juden und Jüdinnen, zudem politische Gegner der Nazis, Homosexuelle, Deserteure, Fahrende, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, aber auch die Fluchthelfer und -helferinnen in der Schweiz. Etwa der bekannte St. Galler Grenzwächter Paul Grüninger, der Hunderten Menschen, die vor dem Nationalsozialismus flüchteten, das Leben rettete.

Das Ziel ist es, dass die Besucherinnen und Besucher ein Bewusstsein für die Verantwortung für das eigene Handeln gewinnen und dafür, die Augen vor dieser Verantwortung nicht zu verschliessen.
Hanno Loewy, Direktor des jüdischen Museums Hohenems

«An den einzelnen Geschichten können wir den Umgang der schweizer Gesellschaft mit den Geflüchteten aufzeigen», sagt Loewy. Ziel des Vermittlungsortes sei es, dass die Besucherinnen und Besucher ein Bewusstsein für die Verantwortung für das eigene Handeln gewinnen würden und dafür, die Augen vor dieser Verantwortung nicht zu verschliessen.

EDA und Stadt Bern arbeiten zusammen

Auch in Bern sind die Arbeiten zur Errichtung eines Erinnerungsortes fortgeschritten. Im April 2023 sprach der Bundesrat dafür 2,5 Millionen Franken, und im Februar dieses Jahres unterzeichnete das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit der Stadt Bern eine Zusammenarbeitsvereinbarung.

Der Bund und die Stadt Bern arbeiten zudem mit den Initianten und Initiantinnen aus der Zivilgesellschaft zusammen, namentlich der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz, dem Schweizerisch Israelitischen Gemeindebund, der Universität Basel, dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich und der Auslandschweizer-Organisation. Diese hatten ursprünglich das Konzept für «Ein Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus» zuhanden des Bundesrats erstellt. Auf dieses stützten sich die Motion des Zürcher SVP-Nationalrats Alfred Heer und der Vorstoss von SP-Ständerat Daniel Jositsch, welche zum eingangs erwähnten Auftrag an den Bundesrat führten. 

Auf der Liste der Unterstützer und Unterstützerinnen des Anliegens standen damals auch die Evangelische Kirche der Schweiz und das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz Heks.

Standortwahl und Wettbewerb als nächste Schritte

In Bern geht es nun zunächst um den künftigen Standort der Gedenkstätte. Gemäss Bundesratsentscheid soll diese an einem zentralen, für alle zugänglichen Ort in der Stadt Bern entstehen. Die Stadt sei aktuell daran, Abklärungen zu zwei möglichen Standorten zu treffen, gibt das EDA schriftlich zur Auskunft.

Als nächstes soll ein Wettbewerb für das Mahnmal in Bern stattfinden. Der Bund, die Stadt Bern und das Initiativkomitee seien aktuell daran, Experten zu konsultieren, um das Wettbewerbsprogramm mit den wichtigen Eckpunkten zu erarbeiten, so das EDA. Der Wettbewerb soll im April 2025 starten. Bis dahin soll die Standortfrage geklärt sein. Und voraussichtlich 2027 wird das Mahnmal realisiert.