Politik 29. April 2024, von Rita Gianelli

Milch für das Kalb und Milch für Menschen

Landwirtschaft

Der Albulahof in La Punt produziert Milch, ohne die Kälber von den Kühen zu trennen. Noch gibt es hierzulande wenige dieser Betriebe. Dabei wäre die Nachfrage da.

Die Erde zittert, wenn Simeli Luftsprünge macht. Der junge Ochse ist ein original Schweizer Braunvieh und wiegt über eine Tonne. Im Stall nimmt er liegend den Platz von drei Kühen ein. Zweimal bewahrten Eugen und Simone Greder-Flükiger ihn vor dem Metzger. «Er war so anhänglich, wir brachten es einfach nicht übers Herz», sagt Simone.
Simeli ist auf dem Albulahof in La Punt im Oberengadin geboren und geniesst gerade seinen täglichen Auslauf. Es hat geschneit über Nacht. Die Sonne scheint. Zwei Esel strecken ihre Köpfe aus dem Stall, kleine Dampfwölkchen steigen aus ihren Nüstern. Im hinteren Teil des Stalles füttert Eugen Greder-Flükiger die Schafe, während Hündchen Solina ihm überallhin folgt. Früher gehörten zum Demeter-Hof noch Hühner. Doch mit den neuen Richtlinien des Labels ist das nicht mehr möglich. Diese verlangen, dass die Hälfte des Tierfutters auf dem eigenen Land produziert wird. «Das ist schwierig auf über 1800 Metern über Meer», sagt Simone.


Vertrauen zu Menschen
Zentral im Betrieb der Bauernfamilie Greder-Flükiger ist die Milchproduktion. «Dadurch pflegen wir eine enge Beziehung zu den Tieren», sagt Simone, «für uns ist das essenziell.» Die Mutter-Kalb-Haltung sei etwas vom Schönsten, das sie in ihrem Betrieb erleben dürften. «Die Milch, die uns die Kuh schenkt, ist etwas sehr Wertvolles», sagt Simone. Der Kuh dafür mit entsprechender Wertschätzung zu begegnen, sei für sie der Grund gewesen, warum sie sich vor zehn Jahren von der herkömmlichen Milchproduktion verabschiedet und der Mutter-Kalb-, kurz MuKa-Haltung verschrieben hätten. Statt Kuh und Kalb nach der Geburt zu trennen und die Kälber mit der Milch aus dem Eimer grosszuziehen, bleiben die Kälber bei der Mutter und trinken sich satt. Sie wachsen, in einem separaten Abteil, im Stall in der Nähe der Mutter auf. Die Restmilch der Mutterkuh verkaufen Greder-Flükigers ab Hof als Trinkmilch oder verarbeiten sie zu Quark, Joghurt, Butter und Rahm. Im Sommer gibt es daraus Käse von der Alp. Eugen lotst Simeli und die anderen Kühe zurück in den Stall. Dann lässt er die Kälber ins Freie springen, jeden Morgen und Abend, bis sie auf die Alp oder zum Metzger gehen. «Bei gutem Wetter wie heute freuen sie sich. Sonst stehen sie Schlange, um rasch wieder in den Stall zu kommen», sagt er. Mindestens achtmal täglich sei er in Kontakt mit seinen Kühen und Kälbern. Zu den Menschen haben die Tiere vom Albulahof deshalb grosses Vertrauen. «Meine Tiere schnuppern sogar dem Metzger an der Schürze», sagt Eugen. 


Milch trinken schützt
In biblischen Texten steht die Milch für die Unverfälschtheit Gottes, für die Reinheit. Das gelobte Land stellen sich die Autoren des Buches Exodus im Alten Testament vor als «ein Land, in dem Milch und Honig fliessen». In neutestamentlichen Schriften ist Milch (griechisch «gala» oder «galaktos») als lebensnotwendiges Nahrungsmittel beschrieben. Das gilt – aus ernährungswissenschaftlicher Sicht – auch heute noch. Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE) empfiehlt drei Portionen Milch oder Milchprodukte pro Tag, vor allem für Kinder, damit die Calciumzufuhr gesichert ist. Milch, so heisst es in den Qualitätsstandards der SGE, hat auch eine präventiveWirkung bei Dickdarm- und Brustkrebs sowie Diabetes Typ 2 oder Jodmangel. Besonders das Trinken von Rohmilch kann in der frühen Kindheit das Risiko für Asthma, Heuschnupfen und Allergien reduzieren. Zu diesem Schluss kommen zahlreiche epidemiologische Studien.


Verändertes Essverhalten
Der Milchkonsum in der Schweiz geht jedoch seit Jahren zurück. Wie dem «Agrarbericht 2023» zu entnehmen ist, tranken Schweizerinnen und Schweizer vor zwanzig Jahren fast fünfzig Prozent mehr Milch. Als Gründe genannt sind verändertes Essverhalten, ein Boom bei Ersatzprodukten wie Soja-, Mandel-, Hafer- oder Reismilch oder Laktoseunverträglichkeit. Und oft angeführt wird das Tierwohl. Der Albulahof ist einer der Betriebe, der diesem Bedürfnis besonders entspricht. Doch für viele Betriebe ist die Umstellung auf eine muttergebundene Kälberaufzucht mit Risiken verbunden. Der Milchpreis ist zu tief, als dass ein kleiner Betrieb davon leben könnte. Über 3000 Liter Milch jährlich produziert eine Kuh im Durchschnitt auf dem Albulahof. Rund 10 000 Liter sind es in einem Hochleistungsbetrieb im Berner Seeland, der von der Milchproduktion leben kann. Simones Nebenverdienst in einem Immobilienbüro und die Bundesbeiträge, unter anderem für die Bewirtschaftung sogenannter Biodiversitätsförderflächen (BFF), sichern der Bauernfamilie ihre Existenz.  Das ermöglicht es dem Bauernpaar, eine ökologische und nachhaltige Kreislauf-Landwirtschaft zu betreiben: Die Kühe werden mit Gras und Heu vom eigenen Betrieb versorgt. Gekauftes Kraftfutter wie Getreide und Soja gibt es nicht für die Kühe auf dem Albulahof. «Das sind Lebensmittel, die den Menschen zugutekommen sollen», sagt Simone.


Für das Leben
Eugen leert im Milchraum neben dem Stall den Rahm in einen Kessel, Simone verarbeitet ihn später zu Butter. Ihre Produkte sind gefragt, sie könnten auch mehr produzieren. Milch aus MuKa-Haltung ist (noch) eine Nische. Unwissen, aber auch eine Agrarpolitik, die vor allem das Wachstum favorisiert, hielten viele Landwirtinnen und Landwirte ab von einer Umstellung auf die MuKa-Haltung, sagt auch Mechthild Knösel. Die deutsche Landwirtin und Pionierin der MuKa-Haltung leitete das Demeter-Hofgut Rengoldshausen am Bodensee mit 50 MuKa-Milchkühen. In der Agrarpolitik, so Knösel, sei ein Paradigmenwechsel überfällig. Nötig sei eine Agrarpolitik für, nicht gegen das Leben. «Die Mutter-Kalb-Haltung ist die gesündeste Art, Milch zu produzieren», sagt sie. Der grösste Betrieb, den sie kenne, habe 1500 Tiere mit Mutter-Kalb-Haltung geführt. «Alles ein Frage des Willens und Stall-Managements», so Knösel, «es gibt unzählige Systeme, wie man Tiere bedürfnisgerecht halten kann.» Trotz noch immer vorhandener Milch-Überproduktion würden die meisten Kälber «grossgehungert», weil ihnen zu wenig Muttermilch, dafür mehr Milchersatzprodukte verfüttert würden, sagt Knösel. Die Folge davon: Kälber entwickeln sich schlecht, werden krank. Bei der MuKa-Haltung, wo das Kalb nach Belieben trinken kann, habe sie das Gegenteil festgestellt. 

«Leben mit den Gesetzen der Natur», so Eugen, das sei auch ihre Berufung. Die Tiere lehrten sie Achtung und Demut vor dem Leben. Als Nächstes wolle er Simeli an die Wiesenegge gewöhnen, sagt der Bauer und krault den Ochsen zwischen den Hörnern.